Amnesty Journal China 05. Oktober 2009

Folklore und Sinisierung

In seiner Studie "Vielvölkerstaat China" untersucht Klemens Ludwig das Verhältnis zwischen Kommunistischer Partei, Han-Chinesen und anderen Ethnien.

Klemens Ludwig ist für seine große Sachkenntnis bekannt. Und auch in seinem neuesten Buch mit dem ­Titel "Vielvölkerstaat China – Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte" zahlt es sich aus, dass der ehemalige Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker seit rund 20 Jahren China bereist.

Ludwig beginnt mit einer Begriffsklärung: Wer bezeichnet ­eigentlich wen als Minderheit? Das hört sich dröge an, ist aber spannend, denn die Chinesen bezeichnen alle Nicht-Chinesen als "Minderheit". Damit fallen rund 100 Millionen Menschen, die 56 Ethnien angehören, unter diese Bezeichnung.

Diese Definition macht bereits den Überlegenheitsanspruch der Han-Chinesen deutlich. Gleichzeitig kann sich jeder als Han-Chinese eintragen lassen, ohne besondere Nachweise erbringen zu müssen. Entscheidend ist also das Selbstverständnis – Sprache oder Kultur werden als nachrangig behandelt. Dieser Logik folgend muss hingegen jeder, der sich als Angehöriger einer Minderheit ausweisen möchte, einen ganzen Stapel an Nachweisen erbringen.

Unter den so genannten Minderheiten lehnen nur die Tibeter und die Uiguren den Machtanspruch Chinas ab; alle anderen Gruppen pflegen ihre Kultur vor allem als eine Art Folklore. ­Ludwig führt überzeugend aus, dass die Minderheiten durchaus Freiräume haben, solange sie den unbedingten Führungsanspruch der Kommunistischen Partei und der Han-Chinesen akzeptieren.

So gilt für Ethnien mit weniger als 10 Millionen Angehörigen die Ein-Kind-Regel nicht, und die Verfassung schreibt das Recht auf Sprachenvielfalt fest. Bislang wurde den regionalen Verwaltern allerdings immer ein KP-Funktionär vorgesetzt, und noch kein einziges Mal wurde dieser Posten mit einem Nicht-Han-Chinesen besetzt. Auch wird in den "Minderheiten-Schulen" Chinesisch als einzige Fremdsprache gelehrt, während in "normalen" Schulen Englisch unterrichtet wird. Folglich werden die Minderheiten-Schüler "sinisiert", während die Han-Chinesen die Möglichkeit erhalten, sich auf die globalisierte Welt vorzubereiten.

In dieser Detailkenntnis liegt die Stärke der Studie. Ludwig setzt die Überreste der Kulturrevolution, das aktuelle Bildungssystem, das Transportwesen, die Verfassung, die Migrationsströme sowie die jeweiligen Kulturen miteinander in Verbindung. Sein Ziel ist es, China als de facto Vielvölkerstaat zu zeigen. Dabei tritt er der Repression der KP-Führung ebenso entgegen wie der im Westen verbreiteten Pauschalverurteilung der chinesischen Nomenklatura.

Von Ines Kappert.

Klemens Ludwig: Vielvölkerstaat China – Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. C.H. Beck, München 2009, 192 S., 12,95 Euro

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