Amnesty Journal 10. Februar 2009

Leben in der Sackgasse

Auf ihren "Romareisen" tauchten der Fotograf Joakim Eskildsen und die Schriftstellerin Cia Rinne in das Leben der größten ethnischen Minderheit Europas ein. Entstanden ist eine fotografische ­Liebeserklärung.

Ein weißhaariger, freundlich blickender Mann, aufgenommen in seinem Haus. Kerzengerade steht er dort. Auf Zehenspitzen zu stehen, ginge gar nicht. Schon jetzt stößt der Mann mit dem Kopf direkt an die Zimmerdecke. Wie ein Symbol gerahmt, posiert der Roma in seinen vier Wänden.

Der in Finnland lebende dänische Fotograf Joakim Eskildsen hat dieses Bild in einem ungarischen Dorf aufgenommen. Es ist eines unter vielen, die er auf seinen Reisen zu den Roma in Europa und in Indien fotografierte. Vom Norden Indiens aus hatten sich die Roma im 4. Jahrhundert aufgemacht. In Europa leben sie zum Teil noch immer so wie einst bei ihrer Ankunft: ausgegrenzt an den Rändern der Städte, in ärmlichen Behausungen, oft ohne Wasser und Strom, ausgeschlossen und immer wieder vertrieben von der Mehrheitsgesellschaft.

Tatsächlich stellen die rund zwanzig Millionen Roma in Europa heute die größte ethnische Minderheit dar – und die ärmste. Nach einer Studie der Weltbank sind sie überdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen. 45 bis 70 Prozent haben keine Arbeit, in einigen osteuropäischen Ländern sind es nahezu hundert Prozent. Ihre Lebenserwartung ist um zehn bis 15 Prozent geringer als bei anderen Minderheiten. Sie sind weitgehend vom Bildungssystem ausgeschlossen. Ihre Kinder werden häufig in Sonderschulen gesteckt, weil ihre Muttersprache Romani ist – und nicht die jeweilige Landessprache. An Förderung wird nicht gedacht. Stattdessen werden weiter Vorurteile geschürt, die Roma seien dreckig, laut und kriminell. 1990 zogen im rumänischen Sfintu Gheorghe Bürger eine Mauer hoch, um die in der Nachbarschaft lebenden Roma sichtbar auszugrenzen. Im Mai vergangenen Jahres griffen hundert mit Schlagstöcken und Molotowcocktails bewaffnete Menschen eine Roma-Siedlung in Neapel an. 800 Roma mussten fliehen, während der italienische Innenminister erklärte: "Angriffe auf Einwanderer durch Bürgerwehren geschehen eben, wenn Zigeuner Babys stehlen oder wenn Roma sexuelle Gewalt begehen."

Joakim Eskildsen und seine Frau, die Schriftstellerin Cia Rinne, verbrachten vor ihren Reisen zu den Roma in den Jahren 2000 bis 2006 viele Monate in Südafrika. Nach dem Ende der Apartheid hatten sie dort ihren Blick für die anhaltende Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung geschärft. Zurück in Europa entdeckten sie, dass insbesondere die Roma nicht minder diskriminiert werden. Durch einen ungarischen Freund kamen sie schließlich in jenes Dorf, wo der gutmütige alte Mann an die Decke stößt. Die Menschen dieses Dorfes sprechen bereits seit vielen Generationen Ungarisch. Zu ihrer Integration hat das bis heute nicht geführt. Sie leben weiterhin in einer kleinen Siedlung abseits des eigentlichen Ortes in einer Sackgasse. Treffender könnte man ihre Lage nicht schildern.

Der Fotograf und die Schriftstellerin haben mit ihrem umfangreichen Buch keinen Betroffenheitsbericht geliefert. Ganz im Gegenteil: Durch ihre häufig monatelange Nähe zu den Roma in sieben Ländern sind faszinierende Porträts von Menschen einer Kultur gelungen, die einst als fahrendes Volk aufgebrochen sind, um Arbeit und eine neue Heimat zu finden. Seit 1.600 Jahren wird ihnen das sehr schwer gemacht. Am 8. Februar dieses Jahres wird in der Schweiz über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien abgestimmt. Die Gegner schüren Ängste vor Roma-Invasionen und schrecken auch vor rassistischen Äußerungen nicht zurück. Amnesty International protestiert. Ebenso gegen die "Hexenjagd" auf Roma in Italien (dazu auch ein Aktionsbrief unter www.amnesty.de).

Eskildsens eindringliche Fotografien und Rinnes sachliche und doch schillernde Texte können und wollen ihre Begeisterung und Liebe für die Roma nicht verbergen. So schildern sie anschaulich ihren Besuch in Stefanesti, einem rumänischen Dorf in der nordöstlich gelegenen Region Moldau. Dort fielen bei ihrem Besuch die Temperaturen auf 20 Grad unter Null, während die Gasversorgung aus der Ukraine stockte. Erzählt wird auch von den rumänischen Juden, die hier vor den Roma lebten und noch rechtzeitig vor den Nationalsozialisten nach Israel fliehen konnten. Und von den Roma, die stattdessen nach Transnistrien, ins "rumänische Auschwitz", deportiert wurden. Als Volk ohne Hinterland werden die Roma oft beschrieben. Was ihnen tatsächlich fehlt, sind Respekt und Anerkennung. Eskildsen und Rinne zollen ihnen beides, nebst Bewunderung. Für ihre eindrucksvollen Reportagen erhielten sie den Deutschen Fotobuchpreis 2009.

Von Petra Welzel.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.

Die Romareisen.
Joakim Eskildsen (Fotografien) / Cia Rinne (Text), 415 Seiten, 243 Abb., eine Toncollage, Steidl Verlag, Göttingen 2007, 60 Euro.

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