Amnesty Report Bosnien und Herzegowina 15. Mai 2017

Bosnien und Herzegowina 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Trotz einer neuen, fortschrittlichen Antidiskriminierungsgesetzgebung, die 2016 verabschiedet wurde, war die Diskriminierung schutzbedürftiger Minderheiten nach wie vor stark verbreitet. Es gab weiterhin Drohungen und Angriffe gegen Journalisten und die Freiheit der Medien. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag fällte Urteile im Zusammenhang mit Verbrechen, die während des bewaffneten Konflikts in den Jahren 1992 bis 1995 verübt worden waren. Auf nationaler Ebene gab es kaum Fortschritte hinsichtlich der juristischen Aufarbeitung des Konflikts sowie der Entschädigung für zivile Kriegsopfer.

HINTERGRUND

Im Februar 2016 beantragte Bosnien und Herzegowina die Mitgliedschaft in der EU. Im September baten die Mitgliedstaaten die EU-Kommission um Prüfung des Antrags.

Die Behörden der Republika Srpska, die einen Landesteil bildet, weigerten sich, ein Urteil des Verfassungsgerichts von Bosnien und Herzegowina umzusetzen. Das Gericht hatte entschieden, das Feiertagsgesetz dieses Landesteils, das den 9. Januar zum Tag der Republika Srpska erklärt, sei verfassungswidrig und diskriminiere die dort lebende nichtserbische Bevölkerung.

Die landesweiten Kommunalwahlen im Oktober 2016 waren von zunehmend nationalistischen Tendenzen geprägt. Im Juni 2016 veröffentlichten die Behörden die Ergebnisse der Volkszählung von 2013, bei der es sich um die erste seit dem Ende des bewaffneten Konflikts handelte. Die Republika Srpska stellte jedoch die Erfassungsmethoden und die Ergebnisse der Volkszählung in Frage.

DISKRIMINIERUNG

Im April 2016 verabschiedete der Ministerrat seinen ersten Aktionsplan gegen Diskriminierung. Im Juli verabschiedete das Parlament von Bosnien und Herzegowina Änderungen des Antidiskriminierungsgesetzes. Die Reform wurde von weiten Teilen der Zivilgesellschaft begrüßt. Als Gründe für Diskriminierung führt das Gesetz nun u. a. auch die sexuelle Orientierung einer Person an. Außerdem wurde das Verbot der Anstiftung zur Diskriminierung, das zuvor nur für rassistische, religiöse und nationalistische Motive gegolten hatte, erheblich ausgeweitet.

Das Parlament des Landesteils Föderation Bosnien und Herzegowina verabschiedete eine Änderung des Strafgesetzbuchs und führte den Straftatbestand Hassverbrechen ein. In der Definition des Straftatbestands werden zwar eine Vielzahl von strafbaren Gründen für Hassverbrechen genannt, die vorgesehenen Strafen für Anstiftung zu Hass, Hassreden und Gewalt beschränken sich aber auf nationalistische, ethnische und religiöse Motive und lassen Hassreden gegen andere marginalisierte Gruppen unberücksichtigt.

Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung waren nach wie vor weit verbreitet. Dies betraf insbesondere Roma sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle. Zwar ging die Zahl der Roma, die keine Ausweispapiere besaßen, zurück, und ihr Zugang zu Wohnraum verbesserte sich leicht, doch wurden sie in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung weiterhin systematisch ausgegrenzt. Die Nationale Strategie zur Integration der Roma und der dazugehörige Aktionsplan liefen 2016 aus, obwohl viele der gesteckten Ziele nicht erreicht worden waren. Der Ministerrat entschied, einen Teil der Mittel, die ursprünglich für die Umsetzung des Aktionsplans verwendet werden sollten, für andere Zwecke einzusetzen.

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle (LGBTI) wurden nach wie vor diskriminiert und eingeschüchtert. Zivilgesellschaftliche Gruppen dokumentierten Fälle von Diskriminierung sowie verbale und tätliche Angriffe, die in der Mehrzahl jedoch von den Behörden nicht sorgfältig untersucht wurden. Im März 2016 drang eine Gruppe junger Männer in der Hauptstadt Sarajevo in ein Café und Kino ein, das als beliebter LGBTI-Treffpunkt gilt. Sie griff dort Besucher an und bedrohte sie. Obwohl mehrere Personen Verletzungen erlitten, stufte die Polizei den Vorfall als geringfügig ein. Auch die Täter, die 2014 die Organisatoren des LGBTI-Filmfestivals Merlinka angegriffen hatten, wurden bislang nicht strafrechtlich verfolgt. 2016 fand das Festival unter starkem Polizeischutz statt.

Die Behörden setzten das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 im Fall Sejdić-Finci gegen Bosnien und Herzegowina nach wie vor nicht um. Das Gericht hatte festgestellt, dass die in der Verfassung festgelegte Machtaufteilung gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Nach den geltenden gesetzlichen Bestimmungen dürfen nur Angehörige der "konstituierenden Völker" (Bosniaken, Serben und Kroaten) für politische Ämter kandidieren, nicht aber Juden, Roma oder Angehörige anderer Minderheiten.

RECHT AUF FREIE MEINUNGSÄUßERUNG

Journalisten waren 2016 weiterhin Einschüchterungen, politischem Druck und Angriffen ausgesetzt. Der Journalistenverband dokumentierte wiederholt Angriffe auf Journalisten sowie auf die Meinungsfreiheit und die Unabhängigkeit von Medienunternehmen.

VÖLKERRECHTLICHE VERBRECHEN

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag fällte im Zusammenhang mit Verbrechen, die während des Konflikts 1992–95 verübt wurden, 2016 erstinstanzliche Urteile gegen ehemalige hochrangige Politiker. Im März 2016 verurteilte der Gerichtshof Radovan Karadžić, den damaligen Präsidenten der Republika Srpska, wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 40 Jahren Haft (gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt). Den Vorsitzenden der Serbischen Radikalen Partei, Vojislav Šešelj, sprach der Gerichtshof im März in allen Anklagepunkten frei. Ihm waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen worden.

In Bosnien und Herzegowina verlief die strafrechtliche Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen 2016 weiterhin schleppend. Grund dafür waren mangelnde Kapazitäten und Ressourcen, eine ineffektive Fallbearbeitung und anhaltende politische Widerstände. Dies galt auch für Prozesse, in denen es um Entschädigungen ging. Im Juli 2016 ergab eine unabhängige Studie im Auftrag der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, dass die Nationale Strategie gegen Kriegsverbrechen ihre Ziele nicht erreicht hatte und noch mehr als 350 aufwendige Fälle vor dem Staatsgerichtshof und bei der Staatsanwaltschaft anhängig waren. Trotz entsprechender Zusagen der Behörden gab es 2016 keinerlei Fortschritte, was die Verabschiedung eines Gesetzes zum Schutz von Folteropfern betraf. Die Gesetze in den verschiedenen Landesteilen wurden nicht angeglichen, so dass weiterhin unterschiedliche Bestimmungen bezüglich der Rechte ziviler Kriegsopfer auf Hilfsleistungen, kostenlose Rechtsberatung und wirksame Wiedergutmachung galten.

Im Oktober 2016 sprach ein Gericht in Doboj einer Frau, die im Krieg vergewaltigt worden war, eine finanzielle Entschädigung zu und verurteilte den Täter zu fünf Jahren Haft. Es war das zweite Mal, dass in einem Strafverfahren einem Opfer von Kriegsverbrechen eine finanzielle Entschädigung zugesprochen wurde. Doch waren weiterhin viele Opfer gezwungen, in Zivilprozessen auf Entschädigung zu klagen, was bedeutete, dass sie ihre Identität preisgeben und zusätzliche Kosten tragen mussten. Im April 2016 entschied das Verfassungsgericht, dass für Entschädigungsforderungen bei nichtmateriellen Schäden eine Verjährungsfrist gelte und entsprechende Forderungen nur an die Täter und nicht an den Staat zu richten seien. Dies schränkte die Möglichkeiten der Opfer, eine Wiedergutmachung zu fordern und zu erhalten, weiter ein.

Obwohl mittlerweile die sterblichen Überreste von mehr als 75 % der seit dem bewaffneten Konflikt vermissten Personen exhumiert und identifiziert werden konnten, wurden noch immer 8000 Personen vermisst. Die Exhumierungen kamen kaum voran, weil dem Institut für vermisste Personen die Mittel gekürzt wurden und es an fachlicher Kompetenz vor Ort mangelte. Das Gesetz über vermisste Personen war 2016 noch immer nicht umgesetzt, und die Einrichtung eines Fonds für die Angehörigen vermisster Personen stand ebenfalls noch aus.

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