Amnesty Report Georgien 01. Juni 2016

Georgien 2016

 

Ein Rechtsstreit um den der Opposition nahestehenden Fernsehsender Rustavi 2 löste Besorgnis hinsichtlich der Meinungsfreiheit aus. Vorwürfe, wonach die Justiz unter politischem Druck stehe und das Recht nur selektiv anwende, bestanden fort. Sie wurden insbesondere laut, nachdem ein ehemaliger Politiker, der auf Anordnung des Verfassungsgerichts freigelassen worden war, einen Tag später erneut inhaftiert und verurteilt wurde. Die Polizei verhinderte mehrfach friedliche Zusammenkünfte oder gestattete sie nur mit Auflagen. Die Ermittlungen gegen Ordnungskräfte, denen Misshandlungen vorgeworfen wurden, verliefen weiterhin schleppend und waren ineffektiv. Über den Vorschlag, einen unabhängigen Untersuchungsmechanismus einzurichten, hatte das Parlament noch nicht abgestimmt.

Hintergrund

Nach provozierenden Äußerungen des bis Dezember 2015 amtierenden Ministerpräsidenten über die Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung und durch die öffentliche Vorführung heimlich aufgenommener Videos verstärkten sich Ende 2015 die politischen Spannungen. Die Videos stammten aus der Zeit, als die Oppositionspartei regierte, und zeigten die Vergewaltigung von Häftlingen im Strafvollzug. Außerdem gelangte ein vertraulicher Informationsaustausch zwischen dem im Exil lebenden ehemaligen Präsidenten und der Führungsspitze des oppositionsnahen Fernsehsenders Rustavi 2 an die Öffentlichkeit. An verschiedenen Orten des Landes drangen Angreifer aus politischen Motiven in die Büros der Oppositionspartei ein und richteten Verwüstungen an.

Zahlreiche Familien, die in früheren Jahren Kredite aufgenommen hatten, waren von einer Abwertung der nationalen Währung um 26% gegenüber dem US-Dollar betroffen und gerieten in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

Der Grenzverkehr mit den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien unterlag nach wie vor Beschränkungen. Es bestand weiterhin Sorge im Hinblick auf sicherheitspolitische und humanitäre Aspekte dieser "ruhenden" Konflikte. Die Spannungen verstärkten sich, als Südossetien am 10. Juli 2015 einseitig Grenzposten um mehrere hundert Meter auf georgisches Gebiet verschob. Berichten zufolge wurden mehrere Zivilpersonen festgenommen und mit einem Bußgeld belegt, weil sie die weitgehend nicht markierte De-facto-Grenze übertreten hatten und "illegal" nach Südossetien eingereist waren.

Im Oktober 2015 besuchte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Georgien. Sie hatte den Gerichtshof kurz zuvor darum gebeten, ein Ermittlungsverfahren zum Krieg zwischen Russland und Georgien im August 2008 einleiten zu dürfen.

Justizwesen

Es bestanden weiterhin Zweifel an der Fairness der Justiz und Befürchtungen hinsichtlich politisch motivierter Strafverfolgung und einer selektiven Anwendung des Rechts.

Am 17. September 2015 entschied das Verfassungsgericht, den Oppositionspolitiker und früheren Bürgermeister der Hauptstadt Tiflis, Giorgi "Gigi" Ugulava, auf freien Fuß zu setzen. Nach Ansicht des Gerichts war seine seit 2014 andauernde Untersuchungshaft wegen Veruntreuung öffentlicher Mittel und Geldwäsche rechtswidrig, weil sie die gesetzliche Maximaldauer von neun Monaten überschritten hatte. Ranghohe Regierungsvertreter äußerten scharfe Kritik an der Entscheidung, und einige regierungsnahe Gruppen drohten, gewaltsam gegen die Richter vorzugehen. Am 18. September 2015 wurde Ugulava wegen Veruntreuung öffentlicher Mittel und Geldwäsche zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und erneut in Haft genommen.

Entgegen aller Erwartung wurde ein Richter, der 2006 den Vorsitz bei einem umstrittenen Mordprozess innegehabt hatte, zum Ende seiner Amtszeit vom Hohen Justizrat am 25. Dezember 2015 erneut als Richter bestätigt. Sein Verhalten in dem damaligen Fall war auf heftige Kritik gestoßen. In einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der sich 2011 mit dem Verfahren beschäftigt hatte, hieß es, mehrere Organe der Staatsgewalt hätten zusammengewirkt, um "zu verhindern, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde".

Recht auf freie Meinungsäußerung

Georgische NGOs und politische Kommentatoren äußerten sich besorgt in Bezug auf die Meinungsfreiheit. Ihrer Ansicht nach war eine Klage, die ein ehemaliger Anteilseigner des Fernsehsenders Rustavi 2 gegen die aktuellen Eigentümer erhob, von der Regierung veranlasst worden, um die politische Opposition ihres wichtigsten Sprachrohrs zu berauben. Am 21. Oktober 2015 erklärte der Direktor von Rustavi 2, er sei erpresst worden. Die Sicherheitskräfte hätten damit gedroht, vertrauliche Aufnahmen von ihm zu veröffentlichen, sollte er nicht kündigen. Nachdem das Stadtgericht Tiflis zugunsten des früheren Anteilseigners entschieden hatte, wurde die Führungsspitze des Senders am 5. November abgesetzt und durch eine regierungsnahe Übergangsverwaltung ersetzt, obwohl das Verfassungsgericht entschieden hatte, dass zunächst das Urteil der nächsten Instanz abgewartet werden müsse.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Polizei schränkte 2015 mehrfach friedliche Zusammenkünfte in unangemessener Weise ein oder verhinderte sie. In anderen Fällen war sie dagegen nicht in der Lage, Zusammenstöße zwischen politischen Gegnern zu unterbinden.

Am 15. März 2015 drangen in Sugdidi ungefähr 50 Anhänger der Regierungskoalition Georgischer Traum in die Büroräume der Oppositionspartei Vereinte Nationale Bewegung und einer mit ihr verbündeten Gruppe ein. Die Angreifer waren mit Holzstöcken bewaffnet, warfen Steine und zerschlugen Fenster. Berichten zufolge wurden neun Personen verletzt, darunter ein Polizist. Die Polizei versuchte, einzuschreiten, war gegenüber den Angreifern jedoch in Unterzahl.

Am 12. Juni 2015 versuchten 15 Menschenrechtsaktivisten auf dem Heydar-Aliyev-Platz in Tiflis auf die schlechte Menschenrechtslage in Aserbaidschan aufmerksam zu machen. Anlass waren die zum ersten Mal ausgetragenen Europaspiele in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Vor der geplanten Kundgebung riegelten Polizisten den Platz ab und verweigerten den Aktivisten ohne Angabe von Gründen den Zugang.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen

Am 17. Mai 2015 gab es in Tiflis eine friedliche Veranstaltung zum Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie an einem geheim gehaltenen Ort. Die Behörden hatten zuvor erklärt, die Sicherheit einer Veranstaltung könne nur garantiert werden, wenn sie an einem bestimmten Ort ohne jede vorherige öffentliche Ankündigung stattfinde.

Am 12. Mai 2015 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Identoba und andere gegen Georgien, der fehlende Polizeischutz für die Teilnehmenden der Demonstration gegen Homophobie und Transphobie im Jahr 2012 stelle eine Diskriminierung dar und habe das Recht der Teilnehmenden auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt.

Am 7. August 2015 sprach das Stadtgericht Tiflis einen Mann wegen Brandstiftung und Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu vier Jahren Gefängnis. Er hatte eine Transfrau angegriffen und eine zweite getötet und deren Wohnung in Brand gesteckt. Das Gericht bewertete die Tötung jedoch als Selbstverteidigung und sprach den Täter in diesem Anklagepunkt frei.

Im Zusammenhang mit den Angriffen auf die Demonstration gegen Homophobie und Transphobie in Tiflis im Jahr 2013 sprach das Stadtgericht Tiflis am 23. Oktober 2015 vier Männer aus "Mangel an Beweisen" frei. Der Freispruch erfolgte, obwohl die Männer Berichten zufolge auf Videos und Fotos von der Demonstration klar zu erkennen waren. Ein fünfter Mann, von dem ebenfalls Bilder existierten, war bereits zuvor freigesprochen worden. An den gewaltsamen Angriffen waren zahlreiche Männer beteiligt, doch keiner von ihnen wurde verurteilt.

Folter und andere Misshandlungen

Georgische Menschenrechtsorganisationen meldeten im Jahr 2015 neue Fälle von Misshandlungen durch Ordnungskräfte. Angehörige der Generalinspektion des Innenministeriums untersuchten mutmaßliche Verstöße nur schleppend und kamen zu keinem Ergebnis.

Die Ombudsperson für Menschenrechte und einige NGOs machten einen Vorschlag für einen unabhängigen Mechanismus zur Untersuchung von Straftaten, die von Ordnungskräften begangen werden. Bis zum Jahresende 2015 hatte sich das Parlament jedoch noch nicht mit dem Gesetz befasst, das für die Einführung des Untersuchungsmechanismus erforderlich ist.

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