Amnesty Report Indonesien 07. April 2021

Indonesien 2020

Das Bild zeigte eine Demonstration mit mehreren Personen, sie halten Schilder in der Hand "Stop Death Penalty"

Hintergrund 

Ende 2020 verzeichnete Indonesien offiziell landesweit 22.138 Todesfälle aufgrund von Covid-19, das sind 82 Fälle pro 100.000 Einwohner_innen. Damit war es das Land mit der dritthöchsten Rate an Covid-19-Toten in Asien. Die Pandemie und die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen hatten erhebliche menschenrechtliche Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf die Rechte des Gesundheitspersonals, das Recht auf Information, die Arbeitnehmerrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Indonesien stellte während der Pandemie den Schutz der Menschenrechte nicht in den Mittelpunkt seiner Strategien und Aktivitäten bezüglich Prävention, Vorkehrungen, Eindämmung und Gesundheitsfürsorge.

Recht auf Gesundheit

Medizinisches Personal

Ende 2020 waren mindestens 504 Beschäftigte im Gesundheitswesen entweder an Covid-19 oder in einigen Fällen an Erschöpfung aufgrund überlanger Arbeitszeiten gestorben. Im März 2020 erklärte der Vorsitzende des Indonesischen Ärzt_innenverbandes, dass das Gesundheitspersonal, das Covid-19-Patient_innen behandelte, über keine angemessene persönliche Schutzausrüstung verfüge. Die langsame Verteilung der Schutzausrüstungen, vor allem in abgelegenen Regionen, hielt mit der ständig steigenden Zahl von Covid-19-Fällen nicht Schritt. Im April berichtete ein Arzt aus Flores, dass Ärzt_innen Einweg-OP-Masken waschen, bügeln und wiederverwenden müssten, da ihre Bestände ausgegangen seien.

Die Beschäftigten im Gesundheitswesen und ihre Familien hatten auch Schwierigkeiten beim Zugang zu Corona-Selbsttests und mussten selbst für die Kosten aufkommen. Zudem wurden sie wegen ihres Berufs diskriminiert. Der Vorsitzende der Indonesischen Vereinigung der Krankenpfleger_innen erklärte, dass die Menschen fürchteten, dass das medizinische Personal das Virus übertragen könnte. Zwischen dem 22. März und dem 16. April 2020 wurde mindestens 19 Angestellten des Gesundheitswesens der Zugang zu ihren Unterkünften verweigert. Da sie nicht in der Lage waren, alternative Unterkünfte zu finden, sahen sich einige dieser medizinischen Arbeitskräfte gezwungen, sich auch in ihrer freien Zeit in dem Krankenhaus aufzuhalten, in dem sie arbeiteten.

Recht auf Information

Nach der Bestätigung der ersten beiden Corona-Fälle in Indonesien durch die Regierung beschloss das Gesundheitsministerium im März 2020, wichtige Daten zu den Corona-Übertragungsketten (wie Ermittlung von Kontaktpersonen und Angaben zur Reisehistorie bei Verdachtsfällen) nicht offenzulegen. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass die Offenlegung großflächige Panik auslösen und negative Auswirkungen auf Recht und Ordnung haben könnte.

Amtsträger_innen räumten ein, dass die Berichterstattung der Regierung über den Ausbruch der Pandemie unzureichend sei. Im April erklärte der Sprecher der Nationalen Katastrophenschutzbehörde Indonesiens, dass die Behörde nicht in der Lage sei, genaue Daten vorzulegen, da die Statistiken des Gesundheitsministeriums nicht mit den von den Provinzverwaltungen gemeldeten Zahlen übereinstimmten und die Daten des Ministeriums unvollständig seien.

Bei der Veröffentlichung von Daten über die Anzahl der mit Corona infizierten Beschäftigten im Gesundheitswesen und deren Arbeitsstätten ließ die Regierung Transparenz vermissen. Die Indonesische Ärzt_innenkammer kritisierte die Regierung und forderte, den zuständigen medizinischen Behörden die Daten über Covid-19-Patient_innen zur Verfügung zu stellen, um die Suche nach Kontaktpersonen und die Behandlung von Erkrankten zu erleichtern

​​​​​​​Arbeitnehmer_innenrechte

Die Corona-Pandemie wirkte sich auch negativ auf die Rechte der Arbeitnehmer_innen aus: Arbeitsverhältnisse wurden beendet, in den von der Pandemie stark betroffenen Wirtschaftsbranchen drohten Lohnkürzungen und Kürzungen des Urlaubsgeldes, und problematische physische Abstandsgebote sowie Regelungen für die Arbeit im Homeoffice wurden eingeführt.

Am 14. März 2020 kündigte der Präsident die Notwendigkeit des physischen Abstandhaltens und Maßnahmen zur Arbeit im Homeoffice an. Dennoch verlangten Arbeitgeber_innen in manchen nicht systemrelevanten Branchen die Anwesenheit ihrer Mitarbeiter_innen am Arbeitsplatz. In einigen Fällen wurde den Beschäftigten mit der Kürzung des Lohns und/oder des Jahresurlaubs gedroht, wenn sie nicht zur Arbeit erschienen. Informelle Arbeitskräfte von Lieferdiensten, Textilfabriken und Restaurants arbeiteten auch während der Pandemie weiter. Die Regierung zog die Arbeitgeber_innen in diesen Branchen nicht zur Rechenschaft, wenn sie ihren Mitarbeiter_innen weder die Möglichkeit zum Händewaschen boten noch Masken zur Verfügung stellten oder wenn sie das Gebot zum physischen Abstandhalten nicht durchsetzten.

Im Oktober 2020 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen (Omnibus Law), das den Schutz der Arbeitnehmerrechte einschränkte. So wurden Bestimmungen über die Höchstdauer von Zeitarbeitsverträgen gestrichen, die Mindestlohnformel geändert und die maximale Zahl erlaubter Überstunden angehoben.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Behörden gingen gegen öffentliche Kritik an der Reaktion der Regierung auf die Corona-Pandemie mit aller Härte vor. Am 4. April 2020 veröffentlichte das Nationale Polizeipräsidium Brieftelegramm Nr. ST/1100/IV/HUK.7.1/2020, in dem die Ordnungskräfte angewiesen wurden, das Internet zu überwachen und gegen "Verbreiter von Falschmeldungen" und Personen, die den Präsidenten und seine Regierung beleidigen, vorzugehen. Mindestens 57 Personen wurden unter dem Vorwurf der Verbreitung "falscher Nachrichten" und der Beleidigung des Präsidenten und seiner Regierung festgenommen.

Unbekannte schüchterten Wissenschaftler_innen, Studierende, Aktivist_innen und Journalist_innen in digitalen Medien ein, um Angst zu schüren und kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Es gab viele Formen der Einschüchterung, darunter Androhungen tätlicher Gewalt mittels Textnachrichten. Studierenden, die Diskussionen über politisch heikle Themen veranstalteten, wurde mit dem Einschreiten der Universitätsleitung gedroht.

Digitale Angriffe richteten sich auch gegen alternative Mediengruppen, darunter die feministischen Online-Newsgroups Magdalene und Konde. Die persönlichen Daten einer Magdalene-Journalistin wurden online gehackt. Zudem wurde sie von unbekannten Personen belästigt, die ihr pornografische Bilder und erniedrigende Aussagen über Frauen zuschickten. Mehrere Betroffene erstatteten Anzeige bei der Polizei. Die diesbezüglichen Ermittlungen waren am Jahresende noch nicht abgeschlossen.

Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Gewaltlose politische Gefangene      

Unter Anwendung des Strafgesetzbuchs und seiner Bestimmungen über Rebellion (makar) leiteten die Behörden nach wie vor strafrechtliche Schritte gegen Personen ein, die sich an friedlichen politischen Aktivitäten beteiligten. Besonders betroffen waren Regionen wie Papua und Maluku, in denen schon seit Langem Unabhängigkeitsbewegungen aktiv sind. Ende 2020 befanden sich noch immer mindestens 48 gewaltlose politische Gefangene aus Papua sowie zehn aus Maluku in Haft. Sie wurden der Rebellion beschuldigt, obwohl sie nur friedliche Proteste abgehalten und keine international anerkannte Straftat begangen hatten.

Am 25. April 2020 nahmen die Behörden sieben Aktivisten der Bewegung Republik Süd-Maluku fest, weil sie am 70. Jahrestag ihrer Gründung eine friedliche Benang-Raja-Flaggenzeremonie durchgeführt hatten. Am 23. März 2020 wies das Militär alle Haushalte in Maluku an, die Nationalflagge Indonesiens zu hissen.

Sieben Papuaner, die im September 2019 in Jayapura festgenommen worden waren, weil sie sich friedlichen Protesten zur Unterstützung papuanischer Universitätsstudierender in Surabaya (Ost-Java) angeschlossen hatten, wurden Mitte 2020 aus dem Gefängnis in Balikpapan entlassen, wohin sie aus Sicherheitsgründen verlegt worden waren. Am 17. Juni 2020 waren sie vor dem Bezirksgericht von Balikpapan (Ost-Kalimantan) wegen ihrer Beteiligung an antirassistischen Protesten schuldig gesprochen und zu Haftstrafen zwischen zehn und elf Monaten verurteilt worden. Nachdem sie ihre Strafen verbüßt hatten, wurde ihnen die übliche finanzielle Unterstützung für ihre Rückkehr nach Papua durch die Behörden verweigert, da die Generalstaatsanwaltschaft angab, kein Geld dafür zu haben.

​​​​​​​Menschenrechtsverteidiger_innen

Menschenrechtsverteidiger_innen und Personen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzten (zumeist Sprecher_innen von Gemeinschaften, die sich mit Zwangsräumungen und anderen Landrechtsfragen befassten), wurden weiterhin wegen ihrer legitimen Aktivitäten bedroht, angegriffen, eingeschüchtert und willkürlich verfolgt. Die Behörden setzten die Festnahme von Kritiker_innen häufig als taktische Maßnahme ein, um sie zum Schweigen zu bringen.  

Amnesty International dokumentierte zwischen Februar 2019 und 21. September 2020, dass in diesem Zeitraum mindestens 201 Menschenrechtsverteidiger_innen und sozial engagierte Personen Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, sowohl online als auch offline. Sie wurden allein deshalb schikaniert und eingeschüchtert, weil sie die Regierung kritisierten oder über politisch heikle Themen wie Menschenrechtsverletzungen oder Übergriffe in Papua diskutierten. Die digitalen Einschüchterungen nahmen viele Formen an, beispielsweise Diebstahl von WhatsApp-Kontodaten, Spam-Anrufe von unbekannten ausländischen Nummern oder digitale Schikane wie das Stören von Online-Diskussionen, insbesondere zum Thema Papua.

Am 5. Juni 2020 wurde ein Webinar von Amnesty International über Rassismus in Papua durch Spam-Anrufe gestört. Drei Teilnehmer_innen der Diskussion wurden mit Roboteranrufen (Robocalls) von drei unbekannten ausländischen Nummern bombardiert.

Im August 2020 forderte der Stiftungsfonds für Bildung, ein von der Regierung finanziertes und dem Finanzministerium unterstehendes Stipendienprogramm, die Menschenrechtsanwältin Veronica Koman, die Menschenrechtsverletzungen in Papua dokumentierte, zur Rückzahlung des für ihr Masterstudium erhaltenen Stipendienbetrages auf. Schon in den beiden vorangegangenen Jahren war sie Schikanen und Einschüchterungen ausgesetzt und wurde u. a. sogar mit dem Tod und mit Vergewaltigung bedroht. Sie lebt im Exil in Australien.

Landstreitigkeiten zwischen lokalen Gemeinschaften und Unternehmen waren durch Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet. Im August nahm die Polizei in Zentral-Kalimantan sechs indigene Dorfbewohner fest. Unter ihnen befand sich Effendi Buhing, ein Sprecher für soziale Gerechtigkeit der Gemeinde Laman Kinipan. Die Festnahme erfolgte, weil die Dorfbewohner_innen einen von der indigenen Gemeinschaft genutzten Wald gegen die Expansion des Palmölunternehmens PT Sawit Mandiri Lestari verteidigten. Die Polizei begründete die Festnahme mit Diebstahl, doch waren sich Beobachter_innen einig, dass die Festnahmen mit dem wachsenden Widerstand gegen die Zwangsräumungen durch Palmölunternehmen zusammenhingen. Zwischen Januar und August 2020 wurden mindestens 29 Verteidiger_innen indigener Rechte und für soziale Gerechtigkeit eintretende Personen inhaftiert, tätlich angegriffen oder eingeschüchtert.Nach wie vor war niemand für frühere Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger_innen zur Rechenschaft gezogen worden. Dazu gehörten die Fälle von Fuad Muhammad Syafruddin (Udin), Wiji Thukul und Marsinah sowie der Fall des bekannten Menschenrechtlers Munir Said Thalib (Munir).

Menschenrechtsverletzungen in Papua und Westpapua

Menschenrechtsgruppen berichteten über rechtswidrige Tötungen sowie andere schwere Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte, vor allem die Anwendung exzessiver Gewalt. Zwischen Februar 2018 und August 2020 wurden 47 Fälle mutmaßlicher rechtswidriger Tötungen durch Sicherheitskräfte registriert, mit insgesamt 96 Todesopfern. In 15 Fällen waren Polizeiangehörige die mutmaßlichen Täter_innen, und in 13 Fällen Angehörige des indonesischen Militärs. In zwölf Fällen sollen sowohl Polizeikräfte als auch Militärpersonal an den Tötungen beteiligt gewesen sein.

Am 19. September 2020 wurde Yeremia Zanambani, Oberhaupt der Indonesischen Evangelisch-Christlichen Kirche in Hitadipa im Regierungsbezirk Intan Jaya (Provinz Papua) getötet. Angaben von Polizei und Militär zufolge war eine bewaffnete Gruppe für seinen Tod verantwortlich. Lokale Aktivist_innen in Papua, die in engem Kontakt zur Familie des Geistlichen standen, wiesen diese Behauptung jedoch zurück. Sie gaben an, dass Yeremia von Militärangehörigen erschossen worden sei, die auf der Suche nach Mitgliedern einer bewaffneten separatistischen Gruppe waren, welche unter dem Verdacht standen, zwei Militärangehörige getötet zu haben. Während des Militäreinsatzes flohen zahlreiche Anwohner_innen aus ihren Häusern in nahe gelegene Wälder oder suchten Zuflucht in der näheren Umgebung.  Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen Indonesiens haben den Zugang internationaler Menschenrechtsbeobachter_innen nach Papua eingeschränkt. Nur selten fanden in Papua Ermittlungen zu Berichten über rechtswidrige Tötungen durch die Sicherheitskräfte statt.

Frauenrechte

Daten der Nationalen Kommission für Frauenrechte mit Stand vom Juli 2020 zeigen, dass die Zahl der gemeldeten Fälle sexualisierter Gewalt gegen Frauen während der Pandemie um 75 Prozent gestiegen ist. Es gab keinen umfassenden Rechtsrahmen, der alle Formen sexualisierter Gewalt umfasste. Das indonesische Strafgesetzbuch definiert lediglich Vergewaltigung und "Ehebruch" (unter Verstoß gegen das Völkerrecht) als sexualisierte Gewalt und sieht nur einen begrenzten Schutz der Betroffenen vor. Am 2. Juli strich das Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt offiziell von der Prioritätenliste des nationalen Gesetzgebungsprogramms. Damit wurde die Verabschiedung eines umfassenden Rechtsrahmens untergraben, der die Strafverfolgung der Verantwortlichen garantieren und den Überlebenden sexualisierter Gewalt angemessenen Schutz bieten würde.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI)

LGBTI wurden weiterhin belästigt, eingeschüchtert, angegriffen und diskriminiert. Die Medien berichteten über aufhetzende, wahrheitswidrige und irreführende Äußerungen, die Amtsträger_innen mit der Begründung abgaben, damit die öffentliche Moral des Landes zu verteidigen. Sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure waren für Gewaltakte sowie für Drohungen, Einschüchterungen und andere Arten der Schikane von Angehörigen der LGBTI-Community verantwortlich.

Am 1. September 2020 führte die Polizei eine Razzia in einer Wohnung im Süden der Hauptstadt Jakarta durch, in der eine private Zusammenkunft von Männern stattfand. Neun Personen wurden festgenommen und der "Unterstützung obszöner Handlungen" nach dem Pornografiegesetz beschuldigt. Das Gesetz sieht dafür eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren vor.

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