Amnesty Journal Ungarn 21. Dezember 2020

"In sehr schlechtem Zustand"

Demonstrierende laufen mit Transparenten über eine Brücke in Budapest.

In Ungarn werden Recht und Rechtsstaatlichkeit immer stärker missachtet. Justiz, Zivilgesellschaft und Journalismus erleben das auf sehr einschneidende Weise.

Von Keno Verseck

Die Bewerbung war erfolgreich. In der Stiftung "Mit der Kraft der Menschlichkeit" freuten sich die Mit­arbeiterinnen und Mitarbeiter. Nun würden sie ihr lange geplantes ­Bildungsprogramm für Jugendliche zum Demokratieverständnis finanzieren und umsetzen können.

Dann kam ein Brief. Die Stiftung solle eine Erklärung nachreichen, in der sie deklariere, dass sie "aus dem Ausland unterstützt" werde. Andernfalls werde man das Projektgeld nicht auszahlen. "Als ich den Brief gesehen habe, konnte ich es nicht fassen", sagt Zoltán Mester, der Sprecher der Stiftung.

Die zivilgesellschaftliche Organisation betreibt in der südungarischen Universitätsstadt Pécs und deren Umland Bildungs-, Jugend- und Sozialprojekte. Viele Angebote richten sich an ärmere und benachteiligte Menschen, beispielsweise an Roma. Im Frühjahr 2020 bewarb sie sich im Rahmen des EU-Jugendprogramms Erasmus+ um Fördergeld für ein von ihr konzipiertes Bildungsprojekt, mit dem sie staatsbürgerliches und demokratisches Bewusstsein bei Jugendlichen fördern wollte. Es war als grenzüberschreitendes Projekt geplant; die Stiftung hatte Partnerorganisationen in Kroatien, Italien und Spanien, sie selbst fungierte als Koordinatorin.

Ihre Bewerbung richtete sie an die "Öffentliche Stiftung Tempus", die in Ungarn für die Verteilung des Brüsseler Erasmus-Geldes verantwortlich ist. Insgesamt ging es um eine Summe von 72.000 Euro, die auch bewilligt wurde. Doch dann forderte Tempus im Nachhinein eben jene schriftliche Erklärung darüber, dass die Stiftung "aus dem Ausland unterstützt" werde.

Die staatliche Institution nahm dabei Bezug auf eines der umstrittensten Gesetze, die Viktor Orbáns Regierung im vergangenen Jahrzehnt erlassen hat – das sogenannte "NGO-Gesetz" von 2017. Es verpflichtet Nichtregierungsorganisationen, auf allen Dokumenten das Label "aus dem Ausland unterstützt" anzubringen, wenn sie umgerechnet mehr als 20.000 Euro jährlich aus dem Ausland erhalten.

Grundwerte der EU

Mit dem Gesetz wollte Orbáns Regierung vorgeblich mehr Transparenz schaffen – obwohl NGOs in Ungarn ihre Finanzierung ohnehin offenlegen müssen. In Wirklichkeit ging es darum, NGOs, die in Ungarn eine wichtige Watchdog-Funktion ­haben, in der Öffentlichkeit zu brandmarken: als ausländische Agenten oder Handlanger des ungarischstämmigen US-Börsenmilliardärs und Philanthropen George Soros, der seit Jahren Zielscheibe von antisemitischen Kampagnen der Orbán-Regierung ist.

Mehr als 30 größere NGOs, darunter auch Amnesty International, erklärten nach der Verabschiedung, dass sie das Gesetz nicht befolgen würden, und klagten dagegen. Auch die Stiftung "Mit der Kraft der Menschlichkeit" schloss sich dem Akt des ­zivilen Ungehorsams an, denn auch sie erhält für ihre Arbeit Geld aus dem Ausland, im Wesentlichen von Soros’ Open Society Foundations. Staatlich sanktioniert wurden die NGOs für ihren Ungehorsam nicht.

Im Juni 2020 erklärte der Europäische Gerichtshof das NGO-Gesetz für unvereinbar mit EU-Recht. Ungarn hätte das Gesetz daraufhin sofort außer Kraft setzen müssen. Doch das geschah nicht. Stattdessen wurde es im Falle der Pécser Stiftung erstmals angewandt: Weil sich die Stiftung weigerte, die von Tempus geforderte schriftliche Erklärung abzugeben, wurde ihr das Projektgeld nicht ausgezahlt.

"Jahrelang hat dieses Gesetz wie ein Damoklesschwert über uns geschwebt", sagt Zoltán Mester. "Dann hat der Europäische Gerichtshof es für unvereinbar mit EU-Recht erklärt. Dennoch haben sie es gegen uns angewendet." Besonders abwegig sei, "dass Tempus Geld verwaltet, mit dem EU-Grundwerte gefördert werden sollen, aber die Auszahlung des Geldes mit einem Gesetz verhindert, das genau diesen Werten widerspricht".

Klagen konnte die Stiftung gegen die Entscheidung nicht, das ließen die Bewerbungsbedingungen nicht zu. Die Causa beschäftigte jedoch die EU-Kommission – sie forderte die ungarische Regierung mehrfach schriftlich auf, das NGO-Gesetz zurückzunehmen. Bisher erfolglos. Ob die EU deswegen ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn anstrengt, ist offen.

Es war nicht das erste Mal, dass die Stiftung mit Orbáns ­System in Konflikt geriet. Politiker der Regierungspartei Fidesz veranstalten in Pécs immer wieder Kampagnen gegen die Stiftung, weil sie angeblich massenhaft illegale Migranten in die Gegend holen wolle oder für eine Verbreitung von Homosexualität werbe.

Öffentliche Schulen arbeiten kaum noch mit der Stiftung zusammen. Vor zwei Jahren zog ein Vermieter einen unterschriftsreifen Vertrag über neue Büroräume zurück, weil er geschäftliche Nachteile befürchtete. "Leider werden wir systematisch schikaniert", sagt Zoltán Mester. "Das Gute ist allerdings, dass wir auch Solidarität erfahren. Zum Beispiel arbeiten inzwischen viele private konfessionelle Schulen mit uns zusammen."

Ein Mann mit Schnurrbart und dichtem Bart am Kinn trägt ein aufgeknöpftes Hemd und Sakko.

Propagandajournalismus auf fast allen Kanälen

Ungarn im Herbst 2020. Viktor Orbán regiert seit gut einem Jahrzehnt und hat sein Land in dieser Zeit in einer Weise anti­demokratisch umgekrempelt, wie es für ein EU-Land beispiellos ist. Dabei war es dem ungarischen Premier lange Zeit wichtig, formal die Legalität seines Vorgehens zu wahren. Doch das scheint dem promovierten Juristen Orbán inzwischen gleich­gültig zu sein. Seine Regierung missachtet Recht und Gerichts­urteile mittlerweile ganz offen. Dafür steht der Fall der Stiftung "Mit der Kraft der Menschlichkeit", die mit Hilfe eines Gesetzes sanktioniert wird, welches das ungarische Parlament längst hätte abschaffen müssen. Es ist ein Präzedenzfall. Und ein Zeichen dafür, wie weit die Umgestaltung Ungarns zu einem "illiberalen Staat" nach einem Jahrzehnt Orbán gediehen ist.

In fast jedem staatlichen und gesellschaftlichen Bereich können Menschen davon berichten, wie sie zermürbt werden, wenn sie sich nicht regierungskonform verhalten. Zu den ers­ten, die das nach Orbáns Machtantritt im Mai 2010 zu spüren bekamen, gehörten Journalistinnen und Journalisten. Ausgestattet mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit schuf Orbán zunächst ­einen neuen institutionellen Rahmen und gestaltete die öffentlich-rechtlichen Medien radikal um. Sie sind längst völlig gleichgeschaltet und bieten praktisch nur noch Propagandajournalismus. Dass in ihnen Zensur herrscht, ist belegt.

Im Fall der privaten Medien ging Orbáns Regierung anders vor. Sie wurden von staatlicher Werbung, die auf dem kleinen ungarischen Medienmarkt eine wichtige Rolle spielt, abgeschnitten. Informell wurde auch der Privatwirtschaft bedeutet, in unabhängigen privaten Medien keine Werbung mehr zu schalten. Zudem kauften sich Orbán-nahe Mittelsmänner durch obskure Deals zunehmend in private Medien ein.

Vorläufiger Höhepunkt dieser Strategie war vor zwei Jahren eine Aktion, die aus einem Mafiafilm hätte stammen können: Im November 2018 "spendeten" regierungsnahe Unternehmer an einem Tag insgesamt 476 private Medientitel – Radio- und Fernsehsender, Zeitungen, Magazine und Newsportale – an die neu gegründete staatliche "Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung" (Kesma). Damit ist die überwiegende Mehrheit der Medien nun Teil einer Orbán-treuen staatlichen Institution.

Die preisgekrönte Journalistin Veronika Munk hat an prominenter Stelle erlebt, wie die Medienvielfalt in Ungarn immer weiter eingeschränkt wurde. Sie arbeitete fast zwei Jahrzehnte lang bei Index, dem meistgelesenen ungarischen Nachrichtenportal. Im Frühjahr 2020 kaufte sich ein Orbán-naher Medienmanager bei der Anzeigenfirma von Index ein und wollte die Redaktion umstrukturieren. Als der Index-Chefredakteur Szabolcs Dull dagegen protestierte, wurde er entlassen. Daraufhin solidarisierte sich die gesamte Redaktion und kündigte kollektiv – eine einzigartige Protestaktion in der ungarischen Medien­geschichte. Verkündet wurde sie von Veronika Munk, der stellvertretenden Chefredakteurin.

Sie leitet seitdem das von der ehemaligen Index-Redaktion neu gegründete Portal Telex, das sich durch Crowdfunding ­finanziert. Für Munk war der Fall Index einer der tiefsten Einschnitte in die Medienfreiheit in den vergangenen Jahren, dennoch möchte sie nicht vom Ende der Pressefreiheit sprechen: "Man muss differenzieren", sagt sie. "Telex hat eine halbe Million Leser täglich, und wir schreiben, was wir wollen. Das zeigt, dass es noch Pressefreiheit gibt. Nur ist sie in einem sehr schlechten Zustand."

Männer und Frauen mit Mundnasenschutz versammeln sich um einen Bildschirm, hinter ihnen an einer Wand steht "Mistakes are proof that you are trying".

Staat versus Recht

Auch Erzsébet Diós möchte nuancieren, obwohl sie allen Grund hätte, es nicht zu tun. Als Strafrichterin machte sie sich in prominenten ungarischen Korruptions- und Untreueverfahren vor und nach der Jahrtausendwende einen Namen. Sie gehörte 2012 zu jenen mehreren hundert Richtern, die von der Orbán-Regierung per Erlass zwangspensioniert wurden.

Vorgeblich war die Maßnahme Teil einer Justizreform, tatsächlich ging es darum, auch in der Richterschaft einen Wechsel zu erzwingen. Nachdem das ungarische Verfassungsgericht die Verordnung für grundgesetzwidrig erklärt hatte, kehrte Diós 2013 als eine der wenigen auf ihren Posten zurück – die meisten Richterinnen und Richter fanden sich mit dem erzwungenen Ruhestand ab.

Man kann nicht sagen, dass kein Rechtsstaat mehr existiert, aber wir sind auf dem Weg dahin.

Erszébet
Diós
Ungarische Richterin (im Ruhestand seit 2018)

Das Kapitel Zwangspensionierung ist nur eines aus der jahrelangen Justizsaga, deren Ende nicht absehbar ist. Einer ihrer Höhepunkte war Anfang 2012 die Schaffung der Landesgerichtsbehörde OBH, einer Art oberster Leitung der Richterschaft, die mit fast unbegrenzter Macht über Richter und Gerichtsverfahren ausgestattet wurde. Chefin der Behörde wurde Tünde Handó, die Ehefrau des Fidesz-Politikers und Orbán-Vertrauten József Szájer, der auch Hauptautor der neuen ungarischen Verfassung von 2012 war. In Handós Amtszeit kam es zu zahllosen schwerwiegenden Zusammenstößen zwischen ihr und einem Teil der Richterschaft, sodass sie ihre eigentlich neunjährige Amtszeit 2019 vorzeitig beenden musste und auf den Posten ­einer Verfassungsrichterin "weggelobt" wurde. Es war ein pragmatischer Rückzieher von Orbán und seiner Regierung – kein Sieg des unabhängigen Teils der Richterschaft.

Erszébet Diós, die 2018 in den regulären Ruhestand trat, sieht die Justiz in Ungarn in einem Zwischenzustand: "Ich denke, dass die Richter ihre Entscheidungen auch heute noch auf der Basis ihrer inneren beruflichen Überzeugungen treffen", sagt sie. "Aber es ist immer mehr zu spüren, dass die Regierenden eine größere Loyalität von ihnen erwarten. Man kann nicht sagen, dass kein Rechtsstaat mehr existiert, aber wir sind auf dem Weg dahin."

Vergiftetes Klima

Das Abgleiten Ungarns in ein System, das dabei ist, immer undemokratischer zu werden, hat viele Facetten. Es äußert sich auch in einem erdrückenden öffentlichen Klima, in dem all jene, die sich dem herrschenden Diskurs verweigern, als Feinde, Heimatverräter, "Migrantenstreichler" oder "Gender-Idioten" diffamiert werden. Und es führt dazu, dass vor allem junge Menschen in großer Zahl Ungarn gen Westen verlassen.

Auch Dávid Vig lebte einige Zeit im Ausland – in Berlin. Er erinnert sich gern an diese Zeit und schwärmt von der deutschen Hauptstadt. Doch dann kehrte er nach Ungarn zurück, weil er es als seine Aufgabe empfand, nicht wegzulaufen. Der Jurist hat als Rechtsexperte in verschiedenen ungarischen und internationalen Organisationen gearbeitet, seit Ende 2018 leitet er die ungarische Sektion von Amnesty International. Wenn man ihn fragt, wie er das Jahrzehnt unter Orbán bewertet, kann auch er sehr nuanciert und mit vielen juristischen Details antworten.

Doch auf die Frage, was ihm am schwerwiegendsten erscheine, gibt er eine ganz persönliche Antwort: "Die Gräben in Ungarn werden immer tiefer, die Gesellschaft ist extrem polarisiert", sagt Vig. "Wir haben ein völlig vergiftetes öffentliches ­Klima, sogar in vielen Familien wird nicht mehr miteinander gesprochen. Obdachlose, Migranten und Roma sind auf eine Weise Sündenböcke, die zutiefst erschreckend ist. Ich hatte früher Freunde, die völlig anderer Meinung waren. Trotzdem haben wir miteinander gesprochen und zusammen gefeiert. Das geht schon lange nicht mehr."

Keno Verseck ist freiberuflicher Journalist mit Schwerpunkt Mittel- und Südosteuropa. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Weitere Artikel