Amnesty Journal Syrien 09. Oktober 2023

Die Unverurteilten

Der Naim-Platz im syrischen Rakka: ein Rondell, Kreisverkehr, darum Autos, viele zerstörte Gebäude ringsum.

In der IS-Zeit ein Ort der Hinrichtungen: Naim-Platz in Rakka, Frühjahr 2023

Seit Jahren warten Tausende mutmaßliche Anhänger*innen des Islamischen Staats (IS) in Gefängnissen im Nordosten Syriens auf ihre Prozesse. Die könnten bald beginnen.

Aus Rakka und Hasaka von Bartholomäus Laffert

Am 20. Januar 2022 sah Sabah Al-Ahmad ihren Sohn zum letzten Mal. An jenem Morgen hatten sich zwei Anhänger des IS vor dem Sinaa-Gefängnis in Hasaka in die Luft gesprengt. Mehrere Dschihadisten waren in das Gefängnis eingedrungen, in dem Hunderte mutmaßliche IS-Kämpfer inhaftiert sind, um ihre Kameraden zu befreien und die Kontrolle über die Stadt im Nordosten Syriens zu übernehmen. "Ahmad hatte an diesem Tag frei. Er hatte seinen Kopf auf meinen Schoß gelegt, und ich spielte mit seinen Haaren, als seine Freunde anriefen und sagten, er solle mit seiner Kamera zum Gefängnis kommen, um das Geschehen zu dokumentieren", erzählt die Mutter. "Ich habe ihm gesagt, er habe frei und solle zu Hause bleiben – aber er ließ sich nicht aufhalten."

Ich habe ihm gesagt, er habe frei und solle zu Hause bleiben – aber er ließ sich nicht aufhalten.

Die 47-Jährige, die ein braunes Kopftuch und ein Kleid aus dunkelrotem Samt trägt, sitzt in ihrer kleinen Wohnung in Hasaka auf dem Sofa. In einem schwarzen Regal an der Stirnseite des Raums hat sie zu Ehren ihres verstorbenen Sohns eine Art Schrein eingerichtet. Dort steht die Wasserpfeife, die Ahmad immer mit seinen Freunden geraucht hat. Auch sein größter Schatz steht im Regal: eine Canon, Modell EOS 77D. Ein Bild auf dem Sofa zeigt ihn mit einem dünnen Schnauzer und sanftem Lächeln. Unter seinem Militärparka lugt ein kleines Kätzchen hervor.

Mit 19 Jahren, zwei Jahre vor seinem Tod, hatte sich der Fotograf den Syrian Democratic Forces (SDF) angeschlossen. Das Militärbündnis überwacht die von Kurd*innen kontrollierte Autonome Region Nord- und Ostsyrien (AANES), die knapp ein Drittel des syrischen Staatsgebiets umfasst.

Wenige Stunden nach dem Abschied von seiner Mutter war Ahmad tot. Ein Scharfschütze des IS hatte ihn durch einen Kopfschuss getötet. Außer ihm verloren 120 weitere SDF-Mitglieder während des Gefängnisaufstands ihr Leben. Auch 374 mutmaßliche IS-Kämpfer starben. Die kurdischen Kräfte benötigten zehn Tage, um die Situation unter Kontrolle zu bringen. Bis heute fragt sich Sabah Al-Ahmad, ob der Tod ihres Sohns nicht hätte verhindert werden können.

Eine muslimische Frau in traditionellem Gewand und mit Kopftuch steht in ihrem WOhmnzimmer auf einem Teppichboden, rechts von ihr ein Fernseher und Bilder an der Wand; ihre Arme hält sie auf Bauchhöhe vor ihrem Körper, die Hände berühren sich dabei.

Sabah Al-Ahmad in ihrer Wohnung. Hasaka, Frühjahr 2023

Was tun mit ausländischen IS-Anhänger*innen?

Der IS trat erstmals vor zehn Jahren in Erscheinung. Er hatte sich 2013 von Al-Qaida abgespalten und versuchte, das Chaos des Krieges in Syrien zu nutzen, um ein Kalifat zu schaffen. Während sich das syrische Regime rasch aus den Kämpfen ­zurückzog, stellten sich insbesondere die Kurd*innen und mit ihnen verbündete Milizen den Dschihadisten entgegen. Ab 2014 wurden sie von einer internationalen Allianz unter Führung der USA vor ­allem durch Luftangriffe unterstützt. Als die SDF 2019 die Ortschaft Baghouz, den letzten Rückzugsort des IS nahe der irakischen Grenze, einnahmen, galten die Dschihadisten als besiegt. Tausende Kämpfer und deren Angehörige wurden gefangen genommen.

Für die Kurd*innen stellt sich seither die Frage: Wie sollen sie mit all den Männern und Frauen verfahren, die viele Jahre lang der wahrscheinlich gefährlichsten Terrororganisation der Welt angehörten und von denen viele eine ausländische Staatsangehörigkeit haben? 42.000 mutmaßliche IS-Angehörige – Männer, Frauen, Kinder – leben in Camps in der Autonomen Region. Etwa 10.000, größtenteils Männer, sitzen in den Gefängnissen. 5.000 davon sind Syrer, 3.000 aus dem Irak, 2.000 der Inhaftierten kommen aus mehr als 20 anderen Ländern.

Die Frau, die diese Probleme lösen soll, hat einen ernsten Blick und schulterlange blondgefärbte Haare. Rima Berkel ist Ko-Vorsitzende des Justizrats der Autonomen Selbstverwaltung und arbeitet in Rakka. Viele Jahre lang galt die einst reiche Stadt am Euphrat als Hochburg des IS in Syrien, zwischenzeitlich war sie sogar Hauptstadt des "Kalifats". Sechs Jahre nach der Befreiung Rakkas ist die Zerstörung immer noch deutlich sichtbar. Gelbe Bagger tragen den Schutt von Häusern ab, die von Fliegerbomben zerstört wurden. Etwas abseits vom Stadtzentrum steht ein kleiner, quadratischer Neubau aus weißem Stein, der von einem einzigen Soldaten bewacht wird. Auf der Fassade ist eine goldene Waage angebracht, und drinnen sitzt Berkel.

Die 40-Jährige hat bis 2018 als Richterin in der kurdischen Stadt Afrin gearbeitet. Als die Türkei die Stadt gemeinsam mit islamistischen syrischen Milizen überfiel, musste sie fliehen. "Es ist egal ob sie sich Al-Nusra nennen oder Nationale Syrische Armee oder Islamischer Staat", sagt Berkel. "Sie haben mein Leben zerstört, unsere Träume genommen und uns von unserem Land vertrieben." Die Dschihadisten zur Rechenschaft zu ziehen, ist für sie zur Lebensaufgabe geworden. Gleichzeitig würden die türkischen Angriffe die juristische Aufarbeitung erschweren: Von den drei Sondergerichten in der Autonomen Region, die für die Verfahren gegen mutmaßliche IS-Kämpfer zuständig sind, ist nur eines in der Stadt Qamischli geblieben.

Eigene Gesetze

Jene, die an der juristischen Aufarbeitung beteiligt sind, sprechen nur selten mit internationalen Medien. Zu groß ist die Gefahr, dass sie selbst zur Zielscheibe werden. Der Rechtsanwalt Shahin Lali hat sich dennoch bereit erklärt. Der 35-Jährige ist stolz auf das Anti-Terror-Gesetz, das die kurdische Selbstverwaltung entworfen hat, um juristisch gegen IS-Anhänger*innen vorgehen zu können, denn die syrische Gesetzgebung reichte dafür nicht aus.

Im neuen Gesetz von 2021 steht etwa in Artikel 3: "Wer eine Terrororganisation gründet, organisiert oder leitet, wird mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn bis fünfzehn Jahren bestraft." Und Artikel 5 legt fest: "1) Wer Diebstahl, Waffen, Munition oder Sprengstoffe jeglicher Art schmuggelt, herstellt oder besitzt, mit der Absicht, sie zur Ausführung einer terroristischen Handlung zu verwenden, wird mit Freiheitsstrafe von zehn bis fünfzehn Jahren (…) bestraft. 2) Die Strafe wird auf lebenslange Haft erhöht, wenn diese Handlungen mit dem Tod einer Person einhergehen."

"Wir bemühen uns um rechtsstaatliche Verfahren. Eine Todesstrafe wie im Irak gibt es bei uns nicht", sagt Lali. Jede*r Angeklagte bekomme einen Rechtsbeistand gestellt und habe das Recht, das Urteil anzufechten. Etwa 8.000 syrische IS-Kämpfer und Unterstützer*innen seien bislang verurteilt worden. Doch viele Menschen in der Autonomen Region würden dafür kein Verständnis aufbringen. "Die Leute fragen: Warum seid ihr so nachsichtig mit denjenigen, die uns geköpft hätten, ohne mit der Wimper zu zucken?", erzählt Lali. "Aber wir wollen keine Rache, wir wollen Gerechtigkeit."

Doch wie so viele Menschen hält auch der Anwalt die IS-Anhänger*innen für tickende Zeitbomben, die jederzeit explodieren können. "Diese Leute verachten uns und unser System", sagt Lali. Einmal hat er selbst einen IS-Kämpfer vor Gericht vertreten. Dieser sei angeklagt gewesen, einem anderen Mann die Kehle durchgeschnitten zu haben. Als Anwalt habe er argumentiert, sein Mandant sei der IS-Propaganda und damit fortgesetzter Gehirnwäsche ausgesetzt gewesen. Doch habe der Mann vor Gericht gesagt: "Ich brauche keinen Anwalt. Ich bereue nichts. Ich habe es aus Überzeugung getan und würde es wieder tun."

Internationale Anerkennung fehlt

Rima Berkel nennt drei Hauptprobleme beim Umgang mit den inhaftierten Dschihadisten: Erstens fehle es an Platz. Normale Gefängnisse seien nicht gut genug gesichert, deshalb habe man die IS-Kämpfer in Militärgefängnisse gesperrt. Diese seien inzwischen überfüllt und es mangele an Wächter*innen. Zweitens fehle es an Angeboten für die Inhaftierten. "Wenn sie in den Gefängnissen sitzen, radikalisieren sie sich weiter, wie einst die Muslimbrüder in Ägypten. Wir brauchen dringend Maßnahmen zur Deradikalisierung." Drittens fehle es an internationaler Unterstützung bei der Aufklärung der Verbrechen. "Die Kämpfer aus dem Ausland sind am gefährlichsten und am besten organisiert. Viele haben ihren Pass verbrannt und versuchen, ihre Identität zu verschleiern, deshalb brauchen wir Austausch mit internationalen Sicherheitsbehörden", erläutert Berkel.

Den gibt es aber bislang nicht. Warum es daran mangelt, erklärt Tanya Mehra, die Leiterin des Programms Rechtsstaatliche Antworten auf den Terrorismus am Internationalen Zentrum für Terrorismusbekämpfung in Den Haag: "Die Autonome Selbstverwaltung ist international von keinem Land anerkannt und unterhält keine diplomatischen Beziehungen." Die Behörden der Autonomen Region könnten deshalb bei ihren Strafverfahren gegen den IS nicht um Rechtshilfe bitten oder Daten und Dokumente aus anderen Staaten anfordern.

Ein weiteres Problem ist laut Mehra, dass die dort gefällten Urteile international nicht anerkannt werden. Deshalb gibt zum Beispiel das Auswärtige Amt an, in Syrien seien bislang keine deutschen Staatsangehörigen verurteilt worden. "Über die Frage, ob 'Urteile' einer völkerrechtlich international nicht anerkannten Entität in Deutschland als Grundlage einer weiteren Freiheitsentziehung anerkannt würden, müssten im Rahmen eines Überstellungsverfahrens auch deutsche Gerichte entscheiden", heißt es auf Anfrage.

Fraglich ist auch, was passieren würde, sollte die Autonome Region eines Tages in den syrischen Staat eingegliedert werden. "Ich denke nicht, dass das syrische Regime die Urteile anerkennen würde", sagt Mehra. Im Namen des Justizrats der Autonomen Selbstverwaltung fordert Berkel ein internationales Sondertribunal auf syrischem Boden, nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse. "Die Leute haben ihre Verbrechen auf unserem Boden, an unseren Leuten begangen. Wir haben die Beweise und die Augenzeugen hier." Sie befürchtet, dass IS-Kämpfer nach einer Rückkehr in ihre Heimatländer nur wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation belangt werden könnten, nicht jedoch wegen der Verbrechen, die sich tatsächlich begangen haben.

Dass Berkel die Gefangenen nicht ­einfach ausliefern will, liegt auch daran, dass diese für die Kurd*innen ein Druckmittel sind, um die US-Militärpräsenz in der Region aufrechtzuerhalten. Sollten die USA die 900 Soldat*innen abziehen, die hier immer noch stationiert sind, befürchten viele eine erneute Invasion der Türkei, die in der Vergangenheit immer wieder deutlich gemacht hat, dass sie die kurdische Selbstverwaltung zu Fall bringen will.

Sondertribunal unrealistisch

Die Terrorismusforscherin Tanya Mehra hält ein internationales Sondertribunal für unrealistisch. Dies erfordere viel politische Unterstützung und eine gesicherte ­Finanzierung, und beides fehle derzeit. Das Auswärtige Amt antwortet auf Anfrage: "Da die sogenannte kurdische 'Selbstverwaltung' völkerrechtlich international nicht anerkannt ist und die Bundesregierung in der Folge keine offiziellen Beziehungen zur kurdischen 'Selbstverwaltung' unterhält, ist eine Unterstützung seitens der Bundesregierung bei der Einrichtung eines internationalen Tribunals unter der Ägide der kurdischen 'Selbstverwaltung' in Nordostsyrien nicht möglich."

Mehra weist außerdem darauf hin, dass Verfahren vor Sondertribunalen in der Vergangenheit oft sehr lange gedauert hätten und letztlich nur wenige Täter verurteilt worden seien. Anstatt sich auf international nicht anerkannte Strafprozesse im Norden Syriens zu verlassen, sollten die IS-Kämpfer und ihre Angehörige besser in ihre Heimatländer zurückgebracht und dort strafrechtlich verfolgt werden.

Nach Angaben der kurdischen Selbstverwaltung haben seit 2019 mindestens 34 Länder rund 6.000 IS-Anhänger*innen wieder aufgenommen, 4.000 davon betrafen den benachbarten Irak. Das Auswärtige Amt betont, die Bundesregierung habe "alle ihr bekannten rückkehrwilligen deutschen Frauen und Kinder aus den Lagern zurückgeholt". Es handelt sich um insgesamt 27 Frauen und 80 Kinder. Männer waren nicht dabei. Das liege daran, schreibt das Amt, dass die kurdische Seite "bezüglich der Männer in ihrem Gewahrsam eigene Strafverfolgungsinteressen" habe.

Mitte Juni kündigte die Selbstverwaltung den Beginn neuer Gerichtsverfahren an, betroffen sein sollen inhaftierte ausländische IS-Mitglieder aus rund 60 Staaten. Derzeit werden die Verfahren vorbereitet. Wann, wo und unter welchen Bedingungen sie stattfinden werden, ist noch nicht bekannt. Tanya Mehra hatte zuvor kritisiert, dass sich viele westliche Länder aus der Verantwortung stehlen. Denn anstatt die kurdische Selbstverwaltung bei der juristischen Aufarbeitung zu unterstützen, hätten zum Beispiel Australien, Kanada und Dänemark mutmaßlichen IS-Anhänger*innen kurzerhand die Staatsbürgerschaft entzogen. Ein Vorgehen, das moralisch und juristisch höchst umstritten ist.

Sabah Al-Ahmad ist sich sicher: Hätten westliche Staaten ihre Angehörigen rechtzeitig zurückgeholt, dann hätte es den Gefängnisausbruch in Hasaka nie gegeben und ihr Sohn wäre heute noch am Leben. "Es ist die Pflicht jedes Landes, sich so um seine Staatsbürger zu sorgen, wie eine Mutter oder ein Vater sich um ihre Kinder sorgen."

Bartholomäus von Laffert ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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