Amnesty Journal Slowakei 22. November 2018

"Im Osten Europas regiert die Angst"

Ein Mann steht mit verschränkten Armen in einer Bibliothek

Keine Angst zeigen. Der slowakische Autor Michal Hvorecky.

Der Schriftsteller Michal Hvorecky über Morde an Journalisten, Trolle aus dem Internet und das vergiftete gesellschaftliche Klima in der Slowakei.

Interview: Tanja Dückers

Nach dem Doppelmord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová im Februar rutschte die Slowakei in eine Staatskrise, der Premierminister trat zurück. Ist nun alles geklärt, seitdem der mutmaßliche Mörder Ende September gefasst wurde?

Diese zwei brutalen Morde bedeuten einen Bruch in der ­modernen slowakischen Geschichte, eine Zäsur. Seit ein paar Wochen wissen wir, dass ausgerechnet ein Ex-Polizist Ján ­Kuciak und Martina Kušnírová ermordet haben soll. Doch im Dickicht aus Korruption und Mafiastrukturen bleiben die drängendsten Fragen bislang ungeklärt: Wer gab grünes Licht, den brutalen Mord bei einem Profikiller in Auftrag zu geben? Wer hat 70.000 Euro für zwei junge Leben bezahlt? Viele gehen davon aus, dass die Frau, die das Honorar vermittelt hatte, von Unbekannten vorgeschoben wurde, die sich durch Kuciaks Recherchen gefährdet sahen. Die Pressefreiheit im Osten Europas ist tatsächlich bedroht.

In Ihrem Roman "Troll", der im September erschienen ist, ­beschreiben Sie eine Gesellschaft in naher Zukunft, die von Trollen aus dem Internet ­beherrscht wird. Erst unlängst ­mussten mehrere Parteien in der Slowakei zugeben, dass sie mit Trollen politische Gegner diffamieren. Ist Ihre Dystopie nicht schon längst Realität?

Leider ja. Ursprünglich wollte ich einen Science-Fiction-Roman in der osteuropäischen Tradition der Fantastik schreiben, die ich seit Jahren lese und bewundere. Als ich 2015 damit anfing, dachte ich, dies sei eine Zukunftsvision. Inzwischen liegt die Handlung jedoch leider sehr nah an der Wirklichkeit. Die Slowakei und ganz Osteuropa befinden sich mitten in einem ­Informationskrieg.

Der ehemalige Premierminister Robert Fico bezeichnete ­Journalisten als "dreckige, antislowakische Prostituierte", "Idioten", "Hyänen" und "schleimige Schlangen". Sie selbst wurden von ihm als "Unruhestifter und Krawallmacher" ­verleumdet. Wie gehen Sie mit diesen Herabwürdigungen um?

Das ist der übliche Ton gegenüber Intellektuellen im Osten Europas. Meine Kollegen und ich sind daran gewöhnt. Die Angst regiert, deswegen will und darf ich keine Angst zeigen, sonst würden sich die Machthaber sehr freuen. Jeder, der sich Protestbewegungen anschließt, Kritik äußert oder Machtstrukturen aufdeckt, wird bei uns als Verräter diffamiert. Das war schon zu sozialistischen Zeiten so: Künstler galten als Feinde der Nation, und die Rechten von heute haben das erfolgreich übernommen. Viele slowakische Politiker bezeichnen uns abwertend als "Caféhaus Bratislava". Soll heißen: Die Intellektuellen, diese Kaffeehaushocker, sitzen nur rum, arbeiten nicht und bereiten den Umsturz vor. Bei der Bevölkerung kam das lange Zeit gut an, aber ich glaube, diese Masche funktioniert nun nicht mehr im selben Ausmaß wie früher.

In "Troll" beschreiben Sie, wie Menschen innerhalb der Familie einander mit Misstrauen begegnen. Das erinnert an die Angst vor Denunziationen im Ostblock vor 1989. Erleben Sie das derzeitige soziale Klima als ähnlich vergiftet?

Absolut. Und das Wort Solidarität wurde leider aus dem Wortschatz gestrichen. Das hat auch mit den Freiheitsrevolutionen von 1989 zu tun und mit der geringen Erfahrung mit Fremden und dem Unbekannten. Es geht aber nicht nur um die Menschen auf der Flucht und die bekannte "Null-Quote". Nach den neoliberalen Reformen der Nullerjahre glaubt man: Wer arm ist, ist selbst schuld. Man hat Angst vor weiter steigender Arbeitslosigkeit, vor angeblicher Überfremdung, vor dem Verlust der eigenen kulturellen und nationalen Identität und Unabhängigkeit. In der Slowakei liegt der Ausländeranteil nur bei rund einem Prozent, im Vergleich dazu in Deutschland bei rund 13 Prozent. Eine faire, offene Diskussion über den Umgang mit ganz wenigen Zuwanderern oder viel zu vielen Armen fehlt komplett.

In diesem Jahr wurde in der Slowakei bislang ein einziger ­Antrag auf Asyl anerkannt. Dennoch beherrscht die Angst vor Migranten die öffentliche Meinung. Warum?

Eigentlich hat die Slowakei ein riesiges Problem mit Auswanderung. 250.000 Bürger haben die Slowakei – ein Land mit 5,5 Millionen Einwohnern – in den vergangenen zehn Jahren ver­lassen. Und trotzdem werden bei uns Einwanderungsängste ­geschürt und die imaginäre Gefahr beschworen, dass uns die Massen der Migranten, gesteuert von dem US-amerikanischen Philanthropen George Soros, überrollen werden. Wie in meinem Roman trifft die Stimmungsmache aber nicht nur Migranten, sondern auch Schwule, Juden oder Roma.

Überfremdungshorror, antisemitische Hetze und Verschwörungstheorien sind auch in den sozialen Netzwerken im Wes­ten omnipräsent. In welchem Maße hat die Entwicklung in Osteuropa das politische Klima im Westen beeinflusst?

Der stärkste Einfluss kommt sicherlich aus der autokratisch regierten Russischen Föderation. Aktuell sitzen in den russischen Botschaften in Prag und Bratislava zahlreiche Agenten, die sich Trolle mieten, Hunderte Fake-Profile erstellen, erfundene News senden, falsche Webseiten aufbauen und manipulative Inhalte viral verbreiten. Die strategischen Hauptziele bestehen darin, die Gesellschaft tief zu verunsichern, den Westen als Feind zu stilisieren und die demokratische Gesellschaftsordnung zu destabilisieren. Russland wird als großer Freund und slawischer Bruder dargestellt, Putin als herausragender, verlässlicher Staatsmann. Damit verbunden ist auch die Beschönigung und Manipulation der gemeinsamen Vergangenheit, zum Beispiel der Okkupation im Jahr 1968. Auf diese Weise soll den Bürgern der Austritt aus EU und Nato schmackhaft gemacht werden. Moskauer Positionen erreichen immer wieder große Bevölkerungsgruppen. Russland verfährt nach der Strategie "teile und herrsche". Gefälschte Berichterstattung heizt alte Konflikte neu an.

Kann man sich der Desinformation überhaupt entziehen?

Ich glaube an die Bildung. Vor allem die jungen Menschen sollten sehr früh lernen, wie Online-Medien funktionieren. Manipulation und Propaganda liegen oft nah beieinander. Immer wieder sorgen manipulierte Bilder und Videos im Netz für Aufsehen. Viele Nutzer von Fake-News-Seiten wissen gar nicht, dass sie ständig Lügen lesen oder hören. Ich arbeite in einem Expertenteam mit, das Fehlinformationen identifiziert. Wir sollten dringend unsere Abwehrfähigkeit stärken und Internetpro­paganda kontern. Wie ich in meinem neuen Buch schreibe: "Früher hieß es: Der Sieger schreibt die Geschichte. Heute wird Geschichte geschrieben, um zu siegen."

Nach den Morden haben Tausende Slowaken wochenlang für eine unabhängige Justiz, die Einhaltung der Menschenrechte und die Meinungsfreiheit demonstriert. Was ist davon übrig geblieben?

Auf lange Sicht bleibt vermutlich nicht viel, aber kurzfristig wurde viel erreicht: Premierminister, Innenminister und Polizeichef mussten zurücktreten. Trotzdem könnte Robert Ficos ­sozialdemokratische – eigentlich rechte, nationalkonservative soziale – Partei die nächste Wahl wieder gewinnen. Ich bin immer noch sehr traurig, zumal ich Ján Kuciak persönlich kannte. Den Mord an ihm können wir und werden wir nicht akzeptieren. Wir können erst beruhigt aufatmen, wenn die Schuldigen rechtskräftig verurteilt und die komplexen Verflechtungen der Mörder bis in die politische Führungsebene und die staatlichen Geheimdienste aufgeklärt worden sind. Geschieht das nicht, werden immer mehr Slowaken das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren.

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