Amnesty Journal Russische Föderation 15. September 2023

"Ich schreibe jeden Tag, damit das Verbrechen nicht vergessen wird"

Eine ältere Frau trägt ein Gewand, das an einen Kimono erinnert und einen Schal, beides aus dünnem Tuch, sie trägt die Haare sehr kurz geschnitten.

Ljudmila Ulitzkaja gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Ihre Geschichten drehen sich um mutige Frauen, einfache Leute und die Unterdrückung in ihrem Heimatland.

Von Tigran Petrosyan

In diesem Jahr feierte Ljudmila Ulitzkaja ihren 80. Geburtstag – in Berlin, wo sie seit mehr als einem Jahr zusammen mit ihrem Mann, dem Bildhauer Andrej Krassulin, lebt. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine waren sie gemeinsam mit sieben Kilo Gepäck in den Westen geflohen. Nichts wünscht sie sich mehr zum Geburtstag, als zurück nach Moskau zu reisen. Aber solange Wladimir Putin an der Macht ist, hat sie wenig Hoffnung.

Ulitzkaja, eine der wichtigsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur, wurde 1943 in Dawlekanowo in der damaligen Baschkirischen Autonomen Sowjetrepublik geboren. Dorthin waren ihre jüdischen Großeltern in der Stalinzeit deportiert worden. In ihrer Berliner Wohnung hängen Schwarz-Weiß-Fotos von ihren Vorfahren – auch das Bild ihres Großvaters Jakow. Ulitzkaja ist ihm nur ein Mal begegnet, als er 1955 auf dem Weg vom Gulag in die Verbannung seine Familie in Moskau besuchen durfte. Aber sie erhielt seine Briefe und Notizbücher. 2007 veröffentlichte sie den Roman "Jakobsleiter", den sie ihrem Großvater widmete und in dem sie die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert erzählt.

"Ich schreibe jeden Tag, damit das Verbrechen nicht vergessen wird", sagt Ulitzkaja.

Im Juni 2023 wurde die Schriftstellerin in Deutschland mehrfach ausgezeichnet; sie erhielt den Günter-Grass-Preis der Hansestadt Lübeck für ihr Lebenswerk und den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück, zusammen mit dem ukrainischen Zeichner Sergiy Maidukov. Dieser weigerte sich, mit der Russin gemeinsam auf der Bühne zu stehen – Ulitzkaja nahm den Preis allein entgegen.

Reflexionen über Totalitarismus

Zuletzt erschienen im Hanser-Verlag unter dem Titel "Die Erinnerung nicht vergessen" ihre gesammelten Essays, biografische Erinnerungen und politische Reflexionen über den Totalitarismus in Russland. Ulitzkaja porträtiert sich darin selbst – sie beschreibt ihren Körper, ihre Seele, ihr Verhältnis zu Liebe, Religion, Politik und Alltag. Die Autorin schildert ihr erstes Rendezvous im Pionierlager, setzt sich mit der Staatstheorie des Philosophen Herbert Spencer auseinander, um das russische Imperium zu erklären, und beschreibt die Zeit der "Samisdat-Literatur", als politisch unliebsame Bücher von Hand zu Hand gingen: "Man bekam sie für einen Tag oder eine Nacht geliehen, musste sie schnell lesen und sofort weitergeben. Das Aufbewahren und Verbreiten dieser Literatur war illegal, dafür drohten Gefängnisstrafen. Aber wir gingen das Risiko ein, tippten die Manuskripte und Bücher ab, gaben sie weiter – auch das war eine Form von Freiheit." Zwei ihrer zentralen Texte lauten "Mein Name" und "Mein Körper und seine Narben". Es sind Gedankenströme, die ohne zeitliche Abfolge dahinfließen.

"Chlestakow ist Präsident, nein das ist nicht lustig". Allein dieser Satz reicht aus, um sich die soziale und politische Lage im heutigen Russland vorzustellen. Sie spielt damit auf Chlestakow an, die Hauptfigur in Nikolai Gogols Komödie "Der Inspektor", ein törichter und eitler junger Mann aus Sankt Petersburg, der nach Saratow reist und versehentlich in einer Provinzstadt landet. Zu diesem Zeitpunkt erfahren die örtlichen Beamten, dass ein inkognito arbeitender Rechnungsprüfer aus der Hauptstadt zu Besuch kommen soll. Sie halten Chlestakow fälschlicherweise für den Inspektor und versuchen, ihn mit Geschenken und Geld milde zu stimmen. Die Provinz als Abbild von ganz Russland.

"Es hängt mit der jahrelangen Unterdrückung zusammen, dass Menschen in Russland nicht gegen die Repressionen oder den Krieg gegen die Ukraine demonstrieren", sagte die Schriftstellerin kürzlich in einem Interview. "Denn wenn sie sich auflehnen und ihre Stimme erheben, kann es zu großem Blutvergießen kommen. Die Regierung verfügt über alle Mechanismen, um dieses Blut fließen zu lassen." Ulitzkaja weiß, wovon sie spricht. Einige Freund*innen von ihr wurden verfolgt, Menschenrechtler*innen und kritische Autor*innen wie sie selbst. "In Russland haben erneut "dunkle Zeiten" begonnen, schrieb sie, als die Regierung in Moskau vor zwei Jahren das Menschenrechtszentrum Memorial auflöste, das seit 1987 die Geschichte des nachrevolutionären Russlands erfasste und bewahrte. "Die Ursache all unserer Probleme liegt in der fehlenden Erinnerungskultur", analysiert sie.

Erst Genetikerin, dann Literatin

Vor ihrer Zeit als erfolgreiche Schriftstellerin, deren Romane und Erzählungen in 25 Sprachen übersetzt wurden, studierte Ljumila Ulitzkaja Biologie, in Moskau forschte sie auf dem Gebiet der Genetik. 1968, als sowjetische Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, musste sie am Institut für Genetik an einer organisierten Versammlung teilnehmen, deren Ziel es war, die Proteste gegen den Einmarsch zu verurteilen. Ihren Protest hat Ulitzkaja mit ihrem Beruf bezahlt. "Bei diesem Treffen saß ich in der Nähe der Tür im hinteren Teil des Raumes", erinnert sie sich heute. "Ich wollte den Saal verlassen, sobald die Abstimmung begann, mit der die Proteste verurteilt werden sollten. Aber die Tür war verschlossen. Also ging ich auf Stöckelschuhen durch den Saal und kam in der Nähe der Tür neben dem Präsidium heraus. Alle sahen mich also, wie ich vor der Abstimmung den Saal verließ. Das war das Ende meiner wissenschaftlichen Karriere, nach zwei Monaten war ich nicht mehr am Institut. Ich bereue es nicht, obwohl ich den Beruf wieder wählen würde."

Ihre Kenntnisse der Genetik finden sich auch in ihren Büchern wieder, oft sind die Held*innen Genetiker*innen und Biolog*innen auf der Suche nach Antworten. Ulitzkaja interessieren aber vor allem Protagonist*innen, die landläufig als "einfache Leute" bezeichnet werden. All dies ist in ihren Büchern nachzulesen, die der Hanser Verlag seit Jahren in deutscher Übersetzung veröffentlicht, darunter einige, die im russischen Original noch nicht erschienen sind.

Viele ihrer Geschichten handeln von mutigen Frauen, die Klischees aufbrechen und versuchen, das Unmögliche möglich zu machen. Wie Sascha aus der Erzählung "Awa" im Erzählband "Alissa kauft ihren Tod", "eine durchschnittliche Ingenieurin mit durchschnittlicher sowjetischer Weltanschauung", die die Geschichte ihres Landes nur aus dem Gesellschaftskundeunterricht und aus sowjetischer Propaganda kennt. Als sie mit Dissident*innen in Kontakt kommt, entdeckt sie eine völlig andere Lebensrealität. Oder Nina aus dem Erzählzyklus "Sechs mal sieben Miniaturen", die in die Schweiz zieht, um Geld zu verdienen und als Putzfrau in einem Zürcher Bordell arbeitet, um dann doch wieder nach Hause zu fliegen – mit einem Baby, das sie eigentlich für ein reiches Ehepaar austragen sollte.

Ulitzkaja erzählt lakonisch, aber mitabgründigem Humor. Ihre sarkastische Art schimmert überall durch. Es wäre ihr zu wünschen, dass ihr Traum von der Rückkehr nach Moskau doch noch in Erfüllung geht.

Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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