Amnesty Journal Polen 26. November 2020

„Furchtlos füreinander da“

Viele Männer und Frauen, die Mundnasenschutz tragen, stehen bei Dunkelheit auf einer Straße und demonstrieren; ein Mann hält ein Pappschild hoch, auf dem in polnisch geschrieben steht: "Abtreibung ist ok".

Abtreibungsverbot: Während einer Demonstration gegen eine Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Einschränkung des Abtreibungsrechts treffen Demonstranten auf die Bereitschaftspolizei (23. Oktober 2020, Warschau).  

In Polen gehen Hunderttausende Menschen auf die Straße. Was mit Demonstrationen gegen das faktische Abtreibungsverbot begann, ist zum größten Protest seit Antritt der konservativen Regierung Ende 2015 angewachsen. Wie sieht Amnesty Polen die Lage?

Anders als bei früheren Demonstrationen umfassen die aktuellen Proteste das ganze Land. Selbst Kleinstädte und bisherige Hochburgen der Regierungspartei PiS solidarisieren sich, Bauern und LKW-Fahrer gesellen sich zu den protestierenden Frauen in Warschau. Längst gehen die Proteste über Forderungen nach einem liberalen Abtreibungsrecht hinaus: Der "Frauenstreik" fordert unabhängige Gerichte sowie den Rücktritt der Regierung und der Verfassungsgerichtspräsidentin. Die Regierung sei vom Ausmaß der Proteste überrascht und habe "keinerlei Idee, was zu tun ist", berichtete die Tageszeitung Rzeczpospolita. Tobias Oellig im Interview mit Mikołaj Czerwiński von Amnesty Polen zur aktuellen Lage.

Wie erleben Sie die Proteste?

Die Demonstrationen waren und sind sehr kraftvoll. Wenn Sie daran teilnehmen, spüren Sie, wie sehr die Menschen eine Veränderung wünschen, wie sehr sie wollen, dass ihre Menschenrechte respektiert werden. Das ist der größte Protest, den wir jemals in Polen gesehen haben. Und zwar überall im Land. Sogar in Städten, in denen die Menschen vorher nicht so viel protestiert haben. All das lässt das Gefühl entstehen, Teil einer größeren Bewegung zu sein, die Polen tatsächlich verändern könnte.

Die Polizei geht mit Tränengas und Festnahmen gegen die Proteste vor. Wie ist die Lage in Warschau?

Angesichts der zunehmenden Polizeigewalt wird die Stimmung von Tag zu Tag angespannter. Viele Demonstrierende wurden inhaftiert, die Polizei setzte Schlagstöcke und Pfefferspray gegen Abgeordnete und Journalist_innen ein. Die Menschen haben das Recht, friedlich zu protestieren, aber die Regierung versucht, dieses Recht zu unterdrücken. Gleichzeitig sehen wir eine wachsende Solidarität unter den Demonstrant_innen: Sie kümmern sich umeinander und organisieren sich, um vor den Polizeistationen zu demonstrieren, in denen Menschen festgehalten werden. Auch die Solidarität aus dem Ausland gibt ihnen Kraft.

Woher kommt die große Solidarität?

Die Solidarität entwickelt sich von innen heraus. Einer der häufigsten Slogans lautet: "Du wirst niemals alleine gehen". Faszinierend ist, dass sich verschiedene von der Pandemie betroffene Gruppen dem Protest angeschlossen haben. Wir haben gesehen, wie Taxifahrer_innen, Lehrer_innen, Ärzt_innen, Unternehmer_innen und Künstler_innen auf verschiedene Weise zusammenkamen. Die internationale Solidarität ist ebenfalls wichtig. Wir sehen, wie Aktivist_innen im Ausland beim Zugang zur Abtreibung helfen, die Stimme der Demonstrant_innen stärken und über die aktuelle Situation auf den Straßen berichten. Für die Demonstrierenden ist diese Unterstützung sehr wichtig, um ihren Aktivismus fortzusetzen.

Viele Demonstrierende wurden inhaftiert, die Polizei setzte Schlagstöcke und Pfefferspray gegen Abgeordnete und Journalist_innen ein. Die Menschen haben das Recht, friedlich zu protestieren, aber die Regierung versucht, dieses Recht zu unterdrücken.

Mikolaj
Czerwinski
Amnesty Polen
Ein Mann mit braunem Haar, hoher Stirn und Vollbart steht vor einem Amnesty-Plakat und redet.

Mikolaj Czerwinski, Mitarbeiter von Amnesty Polen

Worauf hoffen die Demonstrant_innen?

In erster Linie, dass die rückschrittliche Entscheidung bezüglich Abtreibung nicht umgesetzt wird. Vielen wird immer klarer, dass das derzeit in Polen geltende Recht nicht dem Menschenrechtsstandard entspricht – und der Zugang zu Abtreibungen nicht bestraft oder eingeschränkt werden sollte. Die Menschen wollen auch, dass die Regierung und die Polizei Verantwortung übernehmen und zur Rechenschaft gezogen werden für die Gewalt auf den Straßen und für die Schikanen, denen lokale Aktivist_innen – sogar Minderjährige – ausgesetzt sind. Der Frauenstreik hat einen Rat geschaffen, um zu zeigen, was die Demonstrant_innen in Polen ändern wollen, und dessen Forderungen umfassen auch mehr Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen, mehr Einsatz für LGBTI-Rechte und mehr Maßnahmen gegen den Klimawandel.

Was verlangt Amnesty Polen?

Amnesty hat zwei Hauptaufrufe zu den aktuellen Protesten. In erster Linie fordern wir die Achtung der sexuellen und reproduktiven Rechte und den Zugang zur Abtreibung. Die Regierung darf diese nicht einschränken. Der zweite Aufruf lautet, Protestierende zu schützen, anstatt sie anzugreifen. Die Polizei sollte keine unverhältnismäßige Gewalt anwenden und Aktivist_innen wegen ihrer friedlichen Aktionen nicht verfolgen. Das Protestrecht und die Redefreiheit sollten respektiert werden.

Werden die Proteste erfolgreich sein?

Die Menschen in Polen sind hoffnungsvoll. Bei den jüngsten Umfragen unterstützt die Mehrheit die Proteste und Aufrufe. In jedem Falle sind die Proteste schon jetzt erfolgreich, weil sich so viele beteiligen und der öffentliche Diskurs sich verändert. Die Menschen fühlen sich im Moment meist stark und wissen, dass sie füreinander da sind. Das macht sie bis zu einem gewissen Grad furchtlos. Sie befürchten jedoch, dass ihnen insbesondere die reproduktiven Rechte weggenommen werden. Einige haben Angst vor Polizeigewalt, wissen aber gleichzeitig, dass sie von ehrenamtlichen Anwält_innen und Aktivist_innen unterstützt werden. Eine weitere Angst ist, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Europäische Union, ihnen den Rücken zuwenden wird. Die EU muss unbedingt reagieren.

Mikołaj Czerwiński ist Mitarbeiter von Amnesty Polen. Der Menschenrechtsaktivist konzentriert sich hauptsächlich auf die Rechte von Frauen und LGBTI.

Tobias Oellig ist freier Reporter und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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