Amnesty Journal Pakistan 21. März 2018

"Jeder weiß, wer die Mörder sind"

Portrait von Hina Jilani

Die Menschenrechtsanwältin Hina Jilani über Lynchjustiz und den Kampf gegen Kinderehen in ­Pakistan.

Interview: Markus Bickel

Frau Jilani, Ihr Land geht durch schwere Zeiten.

Die menschenrechtliche Situation in Pakistan war schon ­immer sehr schwierig, doch es hat auch schon immer eine starke Menschenrechtsbewegung gegeben. Das aktuelle Problem ­besteht darin, dass der Staat nicht in der Lage oder willens ist, Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.

Das heißt, offizielle Stellen sind für die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich?

Es gibt zwei sehr starke Mächte im Land, die dafür Verantwortung tragen: auf der einen Seite das Militär und das Sicherheitsestablishment, auf der anderen Seite Extremisten und religiöse Gruppen. Der Einfluss dieser beiden Kräfte ist enorm – viel größer als die Unterstützung, die sie im demokratischen Prozess genießen. Sie sorgen dafür, dass die demokratischen Strukturen schwach bleiben, und sie verhindern gesellschaftlichen Wandel.

Ist das eine neue Entwicklung?

Nein. Leider hat eine jahrzehntelange staatlich geförderte Propaganda dafür gesorgt, dass es nichtmuslimischen Gemeinschaften, aber auch Frauen sehr schwer gemacht wird, in Pakis­tan in Würde zu überleben.

Andersdenkende werden häufig der Blasphemie bezichtigt.

Auch wir sind als Blasphemiker beschimpft worden – unter anderem wegen unseres Einsatzes für ein Gesetz gegen die Zwangsverheiratung von Mädchen. Und der Vorwurf der Blasphemie ist in Pakistan extrem gefährlich: Schon die Beschuldigung reicht aus, einen Menschen in Lebensgefahr zu bringen – selbst wenn der Vorwurf gar nicht strafrechtlich verfolgt wird. Es gab Vorfälle, bei denen Menschen als Gotteslästerer bezichtigt und dann getötet wurden.

Für Minderheiten besonders bedrohlich ist es in Belutschistan.

Weil religiöse Gruppen wie die Ahmadiyya und die ethnische Gemeinschaft der Hazara von Extremisten nicht als Muslime anerkannt, sondern als Häretiker diffamiert werden, werden sie angegriffen. Die Zahlen sind ungenau, weil nicht alle Fälle aufgenommen werden, doch ist offensichtlich, dass es sich um gezielte Tötungen handelt. Jeder weiß, wer die Mörder sind.

Das Militär?

Dass der Staat tatsächlich hinter den Morden steckt, lässt sich nur schwer nachweisen. Mitschuldig macht er sich aber durch seine mangelnde Bereitschaft, nichtstaatliche Akteure zur Rechenschaft zu ziehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer militarisierten Provinz wie Belutschistan, in der die Geheimdienste überall präsent sind, die Täter unerkannt bleiben.

Wie erklären Sie sich, dass der Staat sie schützt?

Weil die Hazara so wenige sind, bleiben sie unsichtbar, was dazu führt, dass ihre Diskriminierung international kaum bemerkt wird. Ich würde so weit gehen, zu sagen, dass es in Pakis­tan einen Genozid an der Hazara-Gemeinschaft gibt. Und ich benutze das Wort Genozid nicht unbedacht – weder als Menschenrechtlerin, noch als Anwältin. Ziel ist die systematische Auslöschung der Hazara.

Anders als den Hazara fehlt es den pakistanischen Frauen nicht an starken Sprecherinnen.

Ja, es gibt eine starke Frauenrechtsbewegung, die verhindert hat, dass aus Pakistan ein zweites Afghanistan wurde. Dennoch kämpfen wir weiter um fundamentale Rechte. Zu unseren wichtigsten Anliegen zählt der Kampf gegen die Frühverheiratung von Mädchen. Nur in einer Provinz sind Kinderehen verboten.

Gibt es im Parlament in Islamabad keine Lobby für ein landesweites Verbot?

Nein, abgesehen von ein paar wohlwollenden Abgeordneten. Und in den sozialen Medien gibt es Todesdrohungen gegen mich und andere Frauen, die ein gesetzliches Verbot fordern. Diese Einschüchterungen sind Teil eines weltweiten Trends gegen die Zivilgesellschaft: Die Freiheit, sich auszudrücken und zu protestieren, wird mit aller Gewalt mundtot gemacht.

Gibt es dagegen ein Gegenmittel?

Ja, ein sehr einfaches: Man muss Demokratie fördern, indem man Institutionen Zeit gibt, sich zu entwickeln. Dann klappen die Dinge auch. Unser größtes Problem in Pakistan ist, dass man demokratische Institutionen nicht wachsen lässt.

Was autoritäre Regime und Bewegungen weltweit eint, ist ihr Ressentiment gegen Flüchtlinge. Was lässt sich dagegen tun?

Ich halte die politische Instrumentalisierung von Flüchtlingen für das Schlimmste, was man machen kann – hier in Pakistan, aber auch in Europa. Da es im Kern um die Verteilung von Ressourcen geht, schürt eine solche Politik bewusst Spannungen. Politische Führer haben hier eine kollektive Verantwortung: Sie müssen führen, nicht geführt werden. Und aufstehen für die Schwachen, statt niederzuknien, wenn sie mit Mächtigen konfrontiert sind. 

Hina Jilani arbeitet seit 1992 als Anwältin am Obersten Gerichtshof Pakistans; von 2000 bis 2008 war sie UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger. Die 1953 in Lahore geborene Juristin ist Gründerin der ersten Anwaltskanzlei Pakistans für Frauenrechte und des Aktionsforums der Frauen. Jilani gehört zahlreichen Jurys zur Verleihung von Menschenrechtspreisen an, darunter der zur Vergabe des Aurora-Preises for Awakening Humanity, dessen Gewinner im April bekannt gegeben wird. Amnesty International zeichnete sie 2000 mit dem Genetta-Sagan-Preis für Frauenrechte aus.

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