Amnesty Journal Moldau 22. Mai 2023

Nahe an der Ukraine und trotzdem sicher

Eine Familie in einem Zimmer einer Flüchtlingsunterkunft, zwei Hochbetten, darauf liegend und sitzend drei Kinder, ein Junge und zwei Mädchen, vor den Hochbetten am Tisch zwei Frauen, sitzend.

Beengte Verhältnisse: Familie Bondar in der Unterkunft (Chișinău, Februar 2023)

Der kleine Staat Moldau hat im Verhältnis zur eigenen Bevölkerungszahl mehr ukrainische Flüchtende aufgenommen als jeder andere Staat Europas. Zu Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft.

Aus Chișinău von Tigran Petrosyan

Zwischen gestapelten Kartons mit Sonnenblumenöl, Reis und Babybrei und einem Berg von in Plastik verpacktem Toilettenpapier serviert Proskovii Bondar am einzigen Tisch im Raum das Mittagessen. Sie ruft die Kinder vom Hochbett herunter. Überall stehen Doppelstockbetten nebeneinander. Auf einem glotzen zwei Brüder auf ein Smartphone, auf einem anderen versteckt ein Mädchen seine Puppe und zögert, he­run­terzukommen. Sie habe keinen Hunger, gibt sie vor.

Währenddessen packt ­Larisa Bondar, Proskoviis Tochter, in Eile Hilfsgüter für ukrainische Flüchtlinge in kleine Tüten. 400 sind schon fertig. Drei der Stockbetten biegen sich unter der Last. Die Tüten werden bald abgeholt. ­Einige Betten bleiben jedoch leer. Frisch bezogen warten sie auf jene, die vor Bombenangriffen in der Ukraine nach Chișinău fliehen.

Rund 100.000 blieben

Mehr als 937.000 Ukrainer*innen kamen bisher nach Moldau, die meisten von ihnen reisten weiter, rund 104.000 aber sind geblieben. Damit hat die postsowjetische Republik, die zwischen Rumänien und der Ukraine liegt, im Verhältnis zu ihren 2,6 Millionen Bürger*innen mehr Menschen aus der Ukraine aufgenommen als jedes andere Land in Europa.

Seit August 2022 wohnt Larisa Bondar mit ihren Kindern in einer Unterkunftshalle in Chișinău. Die lokale Nichtregierungsorganisation Nationalkongress der Ukrainer der Republik Moldau (NKRM) hat am Rande der Stadt im Untergeschoss eines 16-stöckigen Neubaus Ladenflächen gemietet und daraus Wohneinheiten gemacht. Dort können rund 50 Personen gleichzeitig untergebracht werden, meist nur für eine Nacht.

Oft kommt nachts ein Bus mit Frauen und Kindern aus der ukrainischen Stadt Mykolajiw in Chișinău an und fährt am nächsten Morgen weiter nach Deutschland oder Österreich. Unter den Weiterreisenden wird auch die Frau sein, die ­gerade noch mit Heftern und Mappen in der Hand vor der Außentür wartet, um ihre Unterlagen den moldauischen Behörden zu zeigen. Und auch die junge Mutter, die mit ihrem zehn Monate alten Baby erst vor drei Tagen Kiew verlassen hat und nun für eine Nacht versucht, ein Bett mit einem weißen Schleier zu bedecken als wäre es ein Wiegenhimmel, wird nicht bleiben.

Etwa 6.000 Menschen durchliefen bislang die Unterkünfte des NKRM. Zu den wenigen, die länger bleiben, zählt die Familie Bondar. Die Arbeit im Zentrum geht auch dank der helfenden Hände von Larisa und Pros­kovii zügig voran. Bald soll auch Larisas Mann kommen. Der georgische Staatsbürger verlängert gerade seinen Pass in Tiflis.

Hier fühlt man sich wenigstens als Mensch.

Larisa
Bondar
geflüchtet aus der Ukraine

Die Suche nach einer besseren Zukunft führte Larisa und ihre Familie zunächst nach Deutschland. Doch wurde der 33-Jährigen schnell klar, dass die Realität dort weniger rosig war, als sie es sich erträumt hatte. Erst mussten sie in einem Zelt an der Straße schlafen, dann landeten sie in einem Flüchtlingsheim, das Larisa als "überfüllt und dreckig" bezeichnet. Sie schafften es bis ins hessische Limburg, wo sie nur ein einziges Wort lernten: "warten". Die Republik Moldau, das ärmste Land Europas, mit einer Inflation von mehr als 40 Prozent, bot den Bondars mehr Chancen. "Hier fühlt man sich wenigstens als Mensch."

Angst vor einem Überfall Russlands

Doch gibt es auch praktische Gründe, hier zu bleiben: "Es gibt keine Sprachbarrieren. Wir können uns auf Russisch verständigen", sagt Larisa Bondar. Vor Februar 2022 waren Ukrainer*innen die zweitgrößte ethnische Minderheit in Moldau, nach Rumän*innen, aber noch vor Rus­s*in­nen. Vielen Geflüchteten ist auch die Nähe Moldaus zur Ukraine wichtig. So können sie leichter zu Verwandten reisen, wenn sie wollen. Andere sitzen auf ihren Koffern und warten darauf, in die Heimat zurückzukehren, sobald dort die Waffen schweigen.

Doch die Situation könnte sich bald ändern. Russland droht permanent damit, alte Konflikte mit Moldau neu anzuheizen. Nach dem Zusammenbruch der Sow­jetunion 1991 und einem kurzen Krieg im Frühjahr und Sommer 1992 entstand im Osten des Landes, an der Grenze zur Ukraine, die selbsternannte Republik Transnistrien. Sie erklärte sich von Moldau unabhängig, ist aber bis heute nicht international anerkannt. Russland gilt als Schutzmacht.

Aber auch in Moldau gibt es immer noch Tausende Menschen, die prorussisch gesinnt sind und für Russland auf die Straße gehen. Es gibt prorussische Parteien im Parlament, die von Moskau finanziert werden, und es gibt eine Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört. Russland plane einen Putsch in Moldau, warnte im Februar die moldauische Präsidentin Maia Sandu. Larisa und ihre Mutter wachen seither jeden Tag mit der Angst vor einem Überfall Russlands auf.

110 Euro pro Monat vom UNHCR

Die Familie Bondar kommt aus dem Dorf Stari Trojany in der Nähe von Odessa. Vier Stunden dauert die Fahrt mit dem Bus nach Odessa, und Proskovii Bondar wird diese Fahrt bald wieder machen. Ihr Mann und die Familie ihrer ältesten Tochter leben in der Hafenstadt, und sie hat dort Arbeit als Schneiderin.

Larisa hat in Chișinău Arbeit gefunden. Sie putzt regelmäßig in einem Tanzstudio. Ihr Gehalt beträgt weniger als die Hälfte des moldauischen Mindestlohns, hilft aber weiter, wenn das Unterstützungsgeld des UN-Flüchtlingskommissariats wieder einmal ausbleibt, weil zuerst Nachweise erbracht werden müssen. 2.200 moldauische Lei, rund 110 Euro, zahlt das UNHCR pro Monat allen Ukrainer*innen, die nachweisen können, dass sie sich tatsächlich in der Republik Moldau aufhalten.

Eine Frau steht vor dicht bepackten Regalen mit Hilfsgütern, Lebensmittel, Sanitärartikel, etc., ihre Haare fallen ihr über die Schultern, sie lächelt und hält die Hände vor dem Körper gefaltet.

Diana Jurna unterstützt Flüchtlinge (Chișinău, Februar 2023)

Sich um solche Nachweise zu kümmern, gehört zum Alltag von Diana Jurna. Sie arbeitet für die NKRM, ihr Büro liegt direkt neben den Flüchtlingsunterkünften. Die 32-jährige Grafikdesignerin hat das Zentrum in Chișinău mit aufgebaut. Viel Arbeit lastet auf ihren Schultern – ­Logistik, Anmeldungen, Behördenbriefe, Zwischenfälle mit Betrunkenen, und immer mangelt es an Geld.

Lange hat sie die Regierung kritisiert, weil diese ukrainischen Flüchtlingen keine Bleibeperspektive bot. Seit Beginn des Krieges verlängerte das Parlament den Aufenthalt von Ukrainer*innen immer nur um 180 Tage. Seit dem 1. März ist das anders. Geflüchteten aus der Ukraine wird nun für die Dauer eines Jahres vorübergehender Schutz gewährt. Sie haben damit Zugang zu medizinischer Versorgung, bestimmten Bildungsangeboten und dürfen arbeiten. Damit ist Diana ­Jurna einverstanden.

In einer Kiste sucht sie für ein Kind in der Unterkunft nach einem Schnuller. Eine Mitarbeiterin bringt Bettwäsche und Handtücher aus der Wäscherei, frisch gewaschen und gebügelt. Larisa soll sie später verteilen. Vor dem Büro drängen sich viele Menschen, einige mit Fragebögen in der Hand, andere wirken nach ihrer Flucht verwirrt oder traurig. Auf Diana Jurna wartet noch viel Arbeit.

Tigran Petrosyan ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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