Amnesty Journal Marokko 08. Juni 2022

Das Leben im Dazwischen

Eine Frau steht vor einer Wand und schreibt in Spalten in kleinen Zeichen etwas.

Rigide Konventionen, Kolonialismus, Sprachlosigkeit – die marokkanische Künstlerin Myriam El Haïk macht die Ambivalenzen von Gesellschaften im Wandel sichtbar. Ihre Mittel sind filigrane Zeichnungen und musikalische Muster.

Von Elisabeth Wellershaus

Rabat im Jahr 2017. Ein paar hundert Meter vom marokkanischen Parlament entfernt erzählt Myriam El Haïk bei ­einem Workshop vom komplizierten Leben zwischen Maghreb und Europa. Es geht um die Arbeitsbedingungen von Künstler_innen, die sich in Marokko gegen rigide Konventionen und in westlichen Großstädten gegen Eurozentrismus wehren. Die Galerie Le Cube, in der die Künstlerin spricht, liegt in einem schönen alten Stadthaus. El Haïk kennt die Räume bereits seit Kindertagen, denn ihre Großmutter lebte einst in ihnen. El Haïk hatte in dieser Galerie eine Ausstellung, bei der sie eine Installation mit dem Titel "Bit Lgless" zeigte, die ihrer Großmutter gewidmet war: ihrem Wohnzimmer, ihrer Gastfreundschaft und ihrem ungewöhnlichen Leben.

Das interaktive Kunstwerk war dem traditionellen marokkanischen Wohnzimmer nachempfunden. Bunte Schaumstoffelemente, die auf dem Boden lagen, symbolisierten die bodennahen Sofas und Kissen, die El Haïk aus der Wohnung ihrer Großmutter kannte. Doch waren die Elemente in ihrer Installation flexibel und beweglich und beschrieben damit vielleicht die soziale Mobilität, die die Künstlerin bei den Frauen ihrer Familie beobachtet hatte.

Aufbruch in größere Freiheit

Ihre Großmutter war in Taroudannt aufgewachsen, einer traditionell geprägten Stadt im Süden Marokkos. Als An­alphabetin hatte sie sich zunächst in ein Schicksal als Hausfrau und Mutter gefügt, wie es in der patriarchalisch geprägten Gesellschaft üblich war. Doch dann bot sich eine Gelegenheit, diesem Leben zu entkommen. Ihr Mann, El Haïks Großvater, hatte den Sohn nach Rabat geschickt, damit dieser dort einen Schulabschluss machte. Der Sohn studierte anschließend Ingenieurswesen in Paris, kehrte nach Rabat zurück und kaufte jene Wohnung, in der sich heute die Galerie Le Cube befindet. Ein paar Jahre später zogen die Großmutter und ihre Tochter dorthin. Die Tochter, Myriam El Haïks Mutter, wurde Französischlehrerin, und das Appartement im Zentrum der Hauptstadt war ein Treffpunkt der Familie. Die Großmutter kehrte nie wieder nach Taroudannt zurück. Fasziniert von den Möglichkeiten, die sich ­einer alleinstehenden Frau in der Hauptstadt boten, verließ sie ihren Mann und begleitete fortan das Leben ihrer Kinder und Enkel.

In El Haïks aktuellen künstlerischen Arbeiten steckt eine ähnliche Symbolik wie in ihrer Installation aus dem Jahr 2017. Bei genauem Hinsehen ergeben sich aus kleinteiligen Zeichnungen oft Teppichmuster, die an die klassischen Läufer erinnern, die in vielen marokkanischen Haushalten liegen. Ihre filigranen Werke scheinen eine Art codierte Schrift zu enthalten. Sie weisen auf das Missverhältnis hin, das in Marokko bis heute in der Vermittlung von Sprache liegt. Zum einen geht es ihr um die Diskrepanz zwischen elitären Bildungschancen in der Hauptstadt und der fehlenden Alphabetisierung in ländlichen Gebieten.

Kulturelles Erbe in mündlicher Überlieferung

Zum anderen führen El Haïks Reflexionen über Sprachlosigkeit und Sprach­erwerb bis in koloniale Zeiten zurück. Die Künstlerin wuchs in einer Umgebung auf, in der die Berberkultur zunächst von der arabischen Kultur verdrängt wurde, die wiederum von der französischen unterdrückt wurde. Bis heute gibt es ­weder ­Medien noch Bücher auf Darija, ­jenem in Marokko weit verbreiteten Dialekt, der eine Brücke zwischen arabisch- und berbersprachigen Menschen darstellt. So verblassen viele mündliche Überlieferungen. Auch Biografien wie die von El Haïks Großmutter leben nur durch die Übersetzungskünste ihrer Enkelin weiter.

Die Codesprache in El Haïks Kunstwerken lässt sich auch als Anspielung auf die Kultur des Schweigens lesen, die ab 1961 bis Ende der 1990er Jahre unter der Regentschaft Hassans II. herrschte, die als "bleierne Zeit" bezeichnet wird. Sein Sohn Mohammed VI. ließ 1999 kurz nach seiner Inthronisierung zwar zunächst Oppositionelle frei und unterstützte öffentlich die Forderungen marokkanischer Frauen nach Gleichberechtigung, doch übernahm er den politischen Verwaltungsapparat seines Vaters. Und obwohl er als junger König Fortschritt propagierte, hat sich an den Strukturen bis heute wenig geändert. Noch immer üben sich manche Künstler_innen in Selbstzensur, wenn sie in ihren Werken Themen wie die Königsfamilie, Religion oder gesellschaftliche Strukturen streifen. Noch immer fehlt es an Plattformen, um sich abseits staatlicher Kulturinstitutionen wirklich offen austauschen zu können.

Diese Ambivalenz in der marokkanischen Gesellschaft zeigt sich unterschwellig in El Haïks Werken. Zum einen reflektieren sie rigide Konventionen, gegen die sich bereits ihre allein lebende Großmutter auflehnte. Zum anderen beschreiben sie mit ihren Bezügen auf die vielen Bedeutungsebenen des traditionellen Kunsthandwerks eine Kultur der Vielfalt.

Sprache am Klavier weiterdenken

El Haïks Experimente mit Mustern gehen jedoch auch weit über das Zeichnerische hinaus. Die Künstlerin, die an der École Normale de Musique in Paris Komposition studierte, stellt auch immer wieder Verbindungen zwischen Kunst und Musik her. So will sie auf der diesjährigen Berlin-Biennale eine Installation vorstellen, in der sich zeichnerische und musikalische Systeme begegnen: El Haïk wird zwischen ihren Werken sitzen und auf dem Klavier ein Stück spielen, das die Strukturen ihrer Bilder widerspiegelt.

Bereits 2017 in Rabat hatte sie ein ­rotes Spielzeugklavier dabei, auf dessen scheppernden Tasten sie ein Lied spielte. Sie hatte in einem Pariser Spielzeugladen jedes Minipiano einzeln durchprobiert, bevor sie sich für dieses Exemplar entschied. Die Verkäuferin hatte ihr damals schräge Blicke zugeworfen und erklärt, die kleinen Dinger hätten keinen musikalischen Wert. El Haïk hatte ihr damals geantwortet, dass sie das anders sehe. Für sie war das Musizieren auf Spielzeugklavieren ein Ausdruck künstlerischer Freiheit, ein Weiterdenken jener Stilrichtungen, die in ihrer klassisch und europäisch geprägten Musikerziehung keinen Platz gefunden hatten – die Aneignung neuer Sprachen, die sie am Klavier weiterdachte.

Seit einigen Jahren lebt Myriam El Haïk in Berlin. "Hier wird mein Sohn für mich zum Übersetzer, hier bin ich die Analphabetin", sagt sie. Auf dem Fuß­boden ihrer Wohnung liegt ein Teppich aus Taroudannt mit einem für die Region typischen schwarz-weißen Muster. Er erinnert an die symmetrischen Zeichnungen aus ihren jüngsten Arbeiten. Eines von vielen Mustern, mit denen sie das ­Leben im Dazwischen kartografiert.

Elisabeth Wellershaus ist Autorin, Übersetzerin und freie Journalistin. Sie lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Infos zur Künstlerin: www.myriamelhaik.org

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