Amnesty Journal 03. November 2023

Die geballte Kraft der Polyrhythmik

Eine junge Frau mit schulterlangem schwarzen Haar trägt ein Oberteil und einen kurzen Rock, sie sitzt auf dem Boden vor einem Schallplattenregal.

Faible für Retro-Klänge: Die mexikanische DJ Coco Maria

Vom Pazifik zur Karibik: Auf der Compilation "¡AHORA! The Latin Sound of Now" versammelt Coco Maria zeitgenössischen Latin Pop.

Von Ole Schulz

Brauchen wir in Zeiten von Playlists noch kuratierte Musik? Ja, unbedingt! Es ist einfach etwas anderes, ob ein Algorithmus die Auswahl trifft oder ein Mensch, der all sein Wissen, seine Liebe und Erfahrung in eine persönliche Zusammenstellung steckt. Nehmen wir Coco Marias beim Schweizer Label Bongo Joe veröffentlichte Compilation "¡AHORA! The Latin Sound of Now". Anders als der Titel suggeriert, ist das Album kein Best-of aktueller lateinamerikanischer Songs, sondern es enthält ­Latin-inspirierte Musik aus aller Welt, bei der insbesondere Wegbegleiter von Coco ­Maria zu hören sind.

Die im nordmexikanischen Saltillo aufgewachsene DJ hat sich im Morgenprogramm des früheren BBC-Moderators Gilles Peterson auf dessen Internetradio "Worldwide FM" einen Namen gemacht. Zunächst lebte sie in London und Berlin, inzwischen ist Coco Maria nach Amsterdam umgezogen. Aus den Niederlanden stammt auch ein Teil der Musiker*innen ihres Albums – Lola’s Dice aus Rotterdam etwa oder der holländisch-surinamische Produzent Roland Snijders. 

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Dass Coco Maria ein Faible für Retro-Klänge hat, ist auf ihrer zweiten Compilation unüberhörbar und anders als auf ihrem Vorgänger "Club Coco" präsentiert sie nicht nur tanzbaren Latin Pop. Die neue Platte fühlt sich an, als würde man in den Soundtrack eines -Vampirfilms von Robert Rodriguez ("From Dusk Till Dawn") eintauchen. Hört man instrumentale Cumbia-Songs wie das überdrehte, synkopierte "Puerta Del Sol" von Los Pirañas oder das dubbige "El Bravo" von Los Candeleros aus Madrid, spielen sich vor dem inneren Auge Cartoons ab, in ­denen psychedelische Pilze aus der mexikanischen Wüste, Ayahuasca aus dem Amazonas (die "Liane der Geister") und Schwaden von Weed an einem vorbeiziehen.

Wo Künstler*innen gefährlich leben

Kolumbien ist auf der Compilation ­besonders stark vertreten – dort ist die rhythmische Vielfalt nahezu grenzenlos, sie reicht vom Pazifik zur Karibik, vom Amazonas bis in die Anden. Aus Kolumbien kommen etwa Acid Coco und mit Los Pirañas und Chúpame El Dedo zwei Bands, in denen der Sänger und Multi-Instrumentalist Eblis Álvarez aus Bogotá mitmischt. Chúpame El Dedo bedeutet zu Deutsch "Lutsch meinen Finger", und diese Anarcho-Attitüde ist typisch für die Spaßband, deren Song "Metalero" Cumbia mit Metal kreuzt.

Kolumbien ist auch ein Land, in dem Künstler*innen gefährlich leben. So kam vor einigen Wochen ein Musiker aus Nidia Góngoras Band Canalón de Timbiquí gewaltsam ums Leben, als in den Straßen von Cali das traditionelle Festival Petronio Álvarez stattfand. Dass Lateinamerika trotz Gewalt, Ressourcenausbeutung und Korruption nach wie vor ein Kontinent mit äußerst lebendiger Musik ist, davon zeugt die geballte Kraft der 14 Songs auf "The Latin Sound of Now" – eine von "Timbales"-Trommeln, der "Güiro"-Ratsche und "Claves"-Klanghölzern getra­gene Polyrhythmik, die Menschen überall auf der Welt zur Nachahmung inspiriert.

Coco Maria presents Club Coco ¡AHORA! The Latin Sound of Now (Bongo Joe 2023)

WEITERE MUSIKTIPPS

Zurückgelehnter Wüstenrock

Von Thomas Mauch

Die beste Musik für Indierockfans, die bereits ein wenig durch sind mit dem Indierock, kommt aus der Wüste. Aus dem Maghreb, aus der Sahara und den Gebieten drumherum – der Heimat der Tuareg und vieler Bands, die die traditionelle Musik der Tuareg mit Rock und Blues verbinden. Das Leitinstrument des Wüstenrocks ist die Gitarre. Was alle Indierockfans freut, die auch mit Bands wie Tinariwen, Pionieren des Genres, vertraut sind oder mit Tamikrest und auch dem nigrischen Musiker Bombino, der für sein virtuoses Gitarrenspiel in den Medien als "Sultan of Shred" bezeichnet wurde. Eine hübsche Anspielung auf den bekannten Dire-Straits-Song "Sultans of Swing", schließlich hatte deren Frontmann Mark Knopfler mit seinem fließend-perlenden Spiel Einfluss auf die Wüstenrocker.

Diese Geschmeidigkeit ist auch auf Bombinos neuem Album "Sahel" zu hören, und dazu manchmal noch klirrende Störgeräusche, mit der Gitarre als Stachel. Bombino, Jahrgang 1980, gibt eben auch Jimi Hendrix als Einfluss an. Auf dem Album wechseln sich Titel mit treibendem Rock und einem schönen Schub in psychedelische Sphären ab mit sanft wogenden Folknummern. Auch die akustische Gitarre wird zum wehmütigen Wüstenblues ausgepackt ("Ayo Nigla" als Anspieltipp) und eine Prise Reggae weitet die Perspektive. Insgesamt ist das alles eine Spur zurückgelehnter als Bombinos letztes Studioalbum "Deran", mit dem er als erster nigrischer Künstler 2019 für einen Grammy nominiert war.

Als Kommentar zur aktuellen Lage in Niger ist das Album nicht zu hören: Es wurde bereits vor dem Putsch in einem Studio in Casablanca eingespielt. Und wenn in dem Song "Aitma" die Einheit beschworen wird und die gemeinsame Kultur, auch über Grenzen hinweg, dann bezieht sich das auf die Tuareg, die Nomaden, die sich nicht nur in Niger, sondern auch in Mali, Algerien oder Libyen oft Gängelungen seitens der Regierungen ausgesetzt sehen.

Bombino: "Sahel" (Partisan Records/PIAS)

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