Amnesty Journal 22. Oktober 2020

Sylvie sucht

Eine junge schwarze Frau mit blonden kurzen Haaren trägt Lippenstift und einen Kopfhörer um den Hals und lächelt.

Emanzipation im Fokus: Sylvie Njobati verknüpft die Probleme der anglophonen Minderheit in Kamerun mit der kolonialen Vergangenheit des Landes.

Die Künstlerin Sylvie Njobati aus Kamerun setzt sich mit den Folgen des Kolonialismus auseinander. Die Gottheit ihrer Vorfahren wurde von deutschen Kolonisatoren geraubt und lagert nun im Fundus des Berliner Humboldt-Forums.

Von Elisabeth Wellershaus

Im Schein des Feuers sitzt Sylvie Njobatis Großvater vor seinem Haus. Für ihn hat sie eine abenteuerliche Reise auf sich genommen. Über holprige Schotterpisten durch die Wälder der Region Nord-West-Kamerun, vorbei an verfallenen Häusern, teils verlassenen Ortschaften, ist sie mit ihrem zweiköpfigen Filmteam bis in sein kleines Dorf gefahren. Sie auf dem Rücksitz des einen Mopeds, die Filmausrüstung auf dem Sozius des anderen. Zwischen seinem Dorf, Mbveh, und Bamenda, wo Njobati heute lebt, liegen etwa 100 Kilometer.

Die Distanz, die sie mit ihrem Dokumentarfilm zu überbrücken versucht, ist ungleich größer. "The Twist of Return Ngonnso", der auf Festivals in Afrika und Europa zu sehen war, erzählt die Geschichte ihrer Familie. Davon, wie Großvater Faimbarang vor Jahrzehnten beschloss, sich den Missionaren anzuschließen. Und davon, dass er dafür die spirituelle Führung der Nso-Bevölkerung im ehemaligen Familiendorf aufgab. "Ich konnte unmöglich Diener zweier Herren sein", sagt er seiner Enkelin im Film mit brüchiger Stimme. Einer 28-jährigen Filmemacherin, die aufgebrochen ist, um die Widersprüche zwischen christlicher Erziehung und fast vergessener Tradition aufzuzeigen.

Die eigene Identität erkunden

Njobatis Interesse an ihrer Heimatregion kam zu einem ­ungünstigen Zeitpunkt. Genau in dem Jahr, als die Krise im ­anglophonen Teil Kameruns sich zuspitzte, trieb es sie zurück ins Reich der Nso, die in Nord-West-Kamerun leben. Zuvor hatte sie Jahre in der Hauptstadt Yaoundé verbracht und dabei das ­Gefühl der Entwurzelung nie ganz abschütteln können.

Während des Studiums erlebte sie dort oft, dass ihre Herkunft sie einschränkte. Dass es wegen ihres Akzents reihenweise Absagen für Praktika und Jobs hagelte. Dass sie wegen sprachlicher Missverständnisse im Krankenhaus mehrfach falsch behandelt wurde. Als sie schwanger wurde, beschloss Njobati, dass es an der Zeit sei, in die Heimat zurückzukehren. Für ihren Film und um die eigene Identität zwischen frankophoner Mehrheitskultur und anglophoner Prägung zu erkunden.

Als sie 2017 bei ihren Eltern im Bamenda-Hochland ankam, kämpften dort bereits gewalttätige Separatisten gegen Angehörige der Sicherheitskräfte. Längst waren die anfangs friedlichen Proteste, bei denen Teile der englischsprachigen Bevölkerung mehr Gerechtigkeit von der Zentralregierung forderten, in einen erbitterten Kampf um die Unabhängigkeit der Region umgeschlagen. Sicherheitskräfte verübten grausame Übergriffe auf die Zivilbevölkerung und zerstörten ganze Dörfer, während Separatisten Soldaten töteten und Schulen niederbrannten. Inmitten des politischen Chaos begann Njobati mit den Dreharbeiten – und baute ein Kulturzentrum in Bamenda auf. Im Sysy House of Fame inszeniert sie politisches Schattentheater, zeigt Filme, organisiert Fashion-Shows für junge Modemacher der Region und spielt im Theater der Alliance Française vor teils 400 Zuschauern.

Kolonialgeschichte und familiäre Selbstfindung

Meist geht es in ihren eigenen Produktionen darum, die gegenwärtigen Probleme der Region mit Ereignissen aus kolonialen Zeiten in Bezug zu setzen. Zu Beginn ihres Films etwa fährt die Kamera über das verlassene Familiengrundstück in ihrem alten Dorf. Die Szenen, die Njobati aus Kindertagen erinnert – Hochzeiten, Begräbnisse, Familienfeste – scheinen bei diesem Anblick geradezu surreal. Und so lässt ihr Großvater sich auf die Frage ein, wie es wohl heute im Dorf aussähe, wenn er geblieben wäre. Wenn er die Religion, die von den Kolonisatoren überbracht wurde, nicht zu seiner eigenen erklärt hätte. Und wie es wäre, wenn die heiligste Figur der Nso – Ngonnso – nicht in ­einem Berliner Schaukasten auf die Eröffnung des Humboldt-Forums warten würde. Unaufgeregt streift der Film die Frage der Rückgabe von Kulturgütern vor dem Hintergrund der familiären Selbstfindung. Wichtiger scheint Njobati die persönliche Aufarbeitung. Nach langen Gesprächen hat ihr Großvater sich entschieden, das Dorf der Familie noch einmal zu besuchen. Mit 72 Jahren ist er bereit, dort ein kleines Festival auszurichten, bei dem die traditionelle Kultur im Mittelpunkt stehen soll.

Dass er es bislang nicht geschafft hat, liegt an der Omnipräsenz von Sicherheitskräften und Separatisten, die ein Durchkommen fast unmöglich machen. Bereits zu Beginn der Filmarbeiten wurde Njobati entführt und einen halben Tag lang von Milizionären festgehalten. "Sie hatten mich mit meiner Ausrüstung für eine Regierungsspionin gehalten und dachten, ich würde den Behörden in Yaoundé zuarbeiten", erzählt sie. Erst als ihr Großvater, der in der Gegend bekannt ist, das Filmprojekt am Telefon bestätigt, ließen sie Njobati frei. Sie fuhren sie an ihren nächsten Drehort und halfen dort sogar bei den Aufnahmen.

Pandemie durchkreuzt Pläne

Seitdem "Twist of Return Ngonnso" im Kasten ist, plant Njobati eine längere Filmversion zum Thema. Doch wochenlang hinderte sie nun die Corona-Pandemie an der Umsetzung. "Mein wichtigster Protagonist für den erweiterten Film ist ein knapp 80-jähriger Historiker aus Yaoundé", erzählt sie. Sie mache sich täglich Sorgen um ihn. Die Hauptstadt ist besonders vom Virus betroffen. Bereits vor Corona war Kameruns Gesundheitssystem überlastet, erzählt Njobati. "Jetzt ist es katastrophal."

So saß sie in den vergangenen Wochen oft allein im Büro, hielt ihre Mitstreiter auf Abstand, während Theater-, Film- und Diskussionsveranstaltungen bis auf Weiteres abgesagt wurden. "Der öffentliche Austausch über politische und gesellschaftliche Themen stagniert", sagt sie. "Theater und andere Orte der Begegnung stehen noch immer ziemlich leer." Mit Corona hat sich eine trügerische Stille über Bamenda gelegt, meint Njobati. Die öffentlichen Beschränkungen führten vielleicht zu weniger Übergriffen. Doch die Bevölkerung lebe in dem Irrglauben, dass die politische Krise bald überwunden sei.

Zu gefährlich zum Studieren

Njobati hat in den vergangenen Jahren zu viel erlebt, um sich schon in Sicherheit zu wiegen. Ihre Eltern haben die Region vor Monaten verlassen, sie leben heute in der Küstenstadt Douala. "Für meine Mutter, die Lehrerin ist, war es hier zu gefährlich", erzählt sie. "Lehrpersonal wurde immer wieder angegriffen." Seit geraumer Zeit leiden Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten unter Lehrermangel, zerstörten oder geschlossenen Schulen, der stetig neu aufbrechenden Gewalt. Auch Njobati hat mehrmals ihren Master in Filmwissenschaften an der Universität von Bamenda begonnen und wieder abgebrochen. "Immer dann, wenn wieder besonders viele Kommilitoninnen und Kommilitonen verschwanden oder ermordet wurden, habe ich aufgehört", sagt sie. Vor Monaten keimte Hoffnung auf bessere Zustände auf: Kinder der staatlichen Schulen hatten endlich wieder Aussicht auf regelmäßigen Unterricht. Doch dann kam Corona.

In dieser Gemengelage verhandelt Njobati das Thema Unabhängigkeit auf sämtlichen Ebenen. Sie spricht über koloniales Erbe, Gewaltkonflikte, den Zentralstaat und seine Minderheitenpolitik. Doch vor allem kämpft sie für sie einen Raum, in dem komplexe Identitäten wie ihre ein Zuhause finden.

Elisabeth Wellershaus ist freie Journalistin und Übersetzerin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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