Amnesty Journal Jemen 05. Februar 2018

Tod per Knopfdruck

Zeichnung von Flugzeugen mit Augen als Scheinwerfern

US-Drohnenangriffe gehören zum Alltag vieler Menschen von Afghanistan bis Jemen

Seit Beginn des "Kriegs gegen den Terror" 2001 gehören US-Drohnenangriffe zum ­Alltag vieler Menschen von Afghanistan bis Jemen. Die "Todesengel" steigen auf von Stützpunkten weltweit – meist sehen ihre Piloten die Opfer nicht.

Von Emran Feroz

Am 7. September 2013 nahm eine US-amerikanische ­Reaper-Drohne einen Pickup in der ostafghanischen Provinz Kunar ins Visier. Aus rund vier Kilometern Höhe beobachtete das unbemannte, mit Hellfire-­Raketen ausgestattete Flugzeug das Fahrzeug, ohne Wissen der fünfzehn Insassen. Der Wagen befand sich auf dem Weg nach Gamber, einem nahegelegenen Dorf.

Für das US-Militär ist Kunar berühmt-berüchtigt, immerhin wurden in dieser Provinz, die in weiten Teilen von den afghanischen Taliban kontrolliert wird, seit dem Nato-Einmarsch Ende 2001 zahlreiche amerikanische Soldaten getötet. Womöglich war dies einer der Gründe dafür, warum die Drohnenpiloten an jenem Tag im September davon überzeugt waren, dass sich im besagten Pickup nur Militante, Terroristen oder Extremisten – mittlerweile gibt es für die Aufständischen viele Namen – befinden konnten.

Ausgeführt wurde die Operation von der Special Operations Command, jener schattenhaften Einheit des US-Militärs, die weltweit für Geheimoperationen zuständig ist und Drohnen­angriffe wie den beschriebenen zum Alltag in Afghanistan gemacht hat. Wie bei jeder anderen Drohnenoperation wurde auch diese von mehreren Personen gleichzeitig ausgeführt und begleitet. An einem Kontrollpult befand sich der Pilot, der das Flugzeug via Fernsteuerung bediente, und ein Sensoroperator, der für die Kameras sowie für das Waffensystem der Drohne zuständig war. In einem separaten Raum verfolgten ein Missionskoordinator (mission intelligence coordinator) und zwei seiner Kollegen das Geschehen über mehrere Monitore. Hinzu kamen unter anderen der Chefkoordinator (intelligence tactical coordinator), der die Hauptverantwortung für die Operation innehatte, sowie sogenannte Screener, die die Lage am Boden ebenfalls mitverfolgten.

In vielen Fällen sind diese Personen Zivilisten, die für private Sicherheitsdienstleister arbeiten. Diese Privatunternehmen werden wiederum vom US-Militär beauftragt. Mittlerweile sind Unzählige in den Schattenkrieg der Vereinigten Staaten verwickelt und allgemein für das Kriegsgeschäft des Pentagons unentbehrlich geworden.

Macht über Leben und Tod

Die Verantwortlichen der Operation waren nicht vor Ort in Kunar. Stattdessen befanden sie sich Tausende von Kilometer entfernt, möglicherweise in der Creech Air Force Base in der Wüste Nevadas oder anderswo in den Vereinigten Staaten. Eine wichtige Frage, die sich hierbei stellt, ist folgende: Was sehen all diese Personen überhaupt? Können sie tatsächlich unterscheiden, ob es sich bei den Personen am Boden um Männer, Frauen oder Kinder handelt? Wissen sie, ob sie bewaffnete oder unbewaffnete Menschen sehen?

Die Antwort lautet nein. Die Bilder sind bei weitem nicht so gut, wie uns Medien und teure Hollywood-Produktionen glauben machen wollen. De facto fällt es den Drohnenpiloten oftmals schon schwer, fahrende Autos wie jenen Pickup ausreichend zu identifizieren. Viele Faktoren, etwa die Tageszeit, der Staub in der Luft oder der bewölkte Himmel, spielen hierbei eine Rolle. Die Aufzeichnungen der Gespräche der Piloten, Sensoroperatoren und Koordinatoren haben deutlich gemacht, dass auch Kinder und Frauen durch die Kameras kaum erkannt werden. Das gilt ebenso für Bewaffnete und Unbewaffnete.

Dennoch bestimmten diese Menschen an jenem Tag über das Schicksal der 15 Afghanen in dem Pritschenwagen. Sie hatten die Macht über Leben und Tod – und sie entschieden sich für den Tod per Knopfdruck, für die vollständige Vernichtung. Per Fernauslöser wurden die Hellfire-Raketen gezündet und das Leben von 14 der 15 Insassen, allesamt Zivilisten, ausgelöscht. Nur ein kleines Mädchen, die damals vierjährige Aisha, überlebte. Doch bei dem Angriff verlor das afghanische Mädchen nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr Gesicht. Es wurde zerfetzt und entstellt.

"Hast du von dem Angriff gehört, der auf der Straße nach Gamber stattfand?", wurde Meya Jan, Aishas Onkel, kurze Zeit später am Telefon von einem Bekannten aus dem Nachbardorf gefragt. Meya Jan hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Er hatte Angst um seine Schwester Tahera, deren Ehemann Abdul Rashid, seinen einjährigen Neffen Jundullah und um Aisha. Gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern begab er sich zum Tat­ort. Dort fand er nur noch Aisha lebendig vor. Sie wurde in ein Krankenhaus in der nahegelegenen Stadt Asadabad gebracht. Doch die Ärzte vor Ort konnten Aishas Wunden lediglich reinigen und stellten fest, dass sie durch den Angriff ihr Augenlicht verloren hatte. Die Ärzte sagten Meya Jan, dass sie für Aisha aufgrund ihrer schweren Verletzungen nichts mehr tun könnten. Noch am selben Abend organisierten sie den Transport nach ­Jalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangarhar. Dort, so hieß es, bestünde die Hoffnung, Aisha besser helfen zu können.

Töten auf Befehl

Doch auch in Jalalabad wirkten die Ärzte hoffnungslos und sagten, dass ein moderneres Krankenhaus notwendig sei. Nach vier Tagen Behandlung wurde Aisha mittels eines Hubschraubers und dank der Hilfe von Unama – der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan – nach Kabul gebracht. Dort konnte sie zwar besser behandelt werden, allerdings wurde ihr Fall von der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe der Nato (ISAF) übernommen. Das Schicksal des Mädchens hatte sich bereits herumgesprochen. Es hieß, dass wieder einmal afghanische Zivilisten durch US-amerikanische Luftangriffe getötet worden seien. Aisha befand sich nun im französischen Militärkrankenhaus nahe dem Kabuler Flughafen. Auch der damalige Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, erfuhr von Aisha und besuchte sie.

Als Karzai sah, was von Aishas Gesicht übrig war, fing der Präsident an zu weinen. "In diesem Moment wünschte ich mir, dass sie mit ihrer Familie gemeinsam gestorben wäre", sagte er sichtlich erschüttert in einem Interview mit der Washington Post. Doch Aisha lebte – und für jene, die von ihrer Geschichte erfuhren, wurde ihr entstelltes Gesicht zum Symbol des US-Drohnenterrors in Afghanistan.

Das, was Aisha widerfahren ist, kann nur als Terroranschlag bezeichnet werden. Es ist eine Art von Terror, die nicht nur in ­Afghanistan, sondern auch in vielen anderen, mehrheitlich muslimischen Ländern mittlerweile zum Alltag geworden ist. Für viele Menschen sind die Drohnen, die über ihre Häuser ­fliegen, zu etwas Normalem geworden. Sie sind stets da, sie überwachen jede Bewegung, und sie schlagen zu. Die summenden Drohnen mit Raketen, die wortwörtlich nach dem Feuer der Hölle (hell­fire) benannt sind, bestimmen über Leben und Tod.

Obwohl die Drohnen von der einheimischen Bevölkerung mittlerweile verschiedene Namen erhalten haben, hat sich vor allem der Name "Todesengel" durchgesetzt. So werden die Killermaschinen von einigen Paschtunen in Afghanistan sowie in Pakistan genannt. Es waren allerdings keine Engel, die Aisha an jenem Tag ihr Gesicht und ihre Familie raubten, sondern Menschen, die stundenlang in einem engen Raum am Joystick sitzen. Wie in einem Computerspiel verfolgen sie Menschen auf ­ihrem Monitor und töten auf Befehl, bevor sie ihre Schicht ­beenden und in den Feierabend gehen.

Die Geschichte des globalen Drohnenkrieges der USA begann am 7. Oktober 2001 in Afghanistan. Es war jener Tag, an dem die sogenannte Operation "Enduring Freedom" (Anhaltende Freiheit) der Nato im Land begann. Die westliche Staatengemeinschaft wollte unter der Führung der USA den Afghanen ­Demokratie und Menschenrechte bringen. Zur Unterstützung hatten Afghanistans Nachbarstaaten, Länder wie Pakistan, Usbekistan und Tadschikistan, bereits im Vorfeld erklärt, Washingtons "Krieg gegen den Terror" zu unterstützen. Eine Form dieser Unterstützung war die Bereitstellung von Militärbasen sowie des Luftraums. So kam ausgerechnet im Schatten dieser Pläne zum ersten Mal eine Waffe zum Einsatz, die die Werte und zivilisatorischen Errungenschaften des Westens vollkommen negiert.

An jenem Tag hatten US-Piloten im Combined Air Operations Centre in Saudi-Arabien ein Haus in der südafghanischen Stadt Kandahar, dem Machtzentrum der damaligen Taliban-Regierung, im Visier. Das Ziel der Operation war Mullah Mohammed Omar, der damalige Führer und Gründer der Taliban. Auch im Pentagon in Washington sowie in der CIA-Zentrale in Langley wurde das Geschehen live mitverfolgt. Die Predator-Drohne, die bei dem Einsatz gesteuert wurde, war mit zwei leichtgewichtigen Hellfire-Raketen ausgestattet und startete vom Luftwaffenstützpunkt Khanabad im Süden Usbekistans.

Im Umfeld des Hauses, in dem die Amerikaner den Taliban-Führer vermuteten, waren mehrere Menschen zu sehen. Plötzlich schoss eine Hellfire-Rakete der Drohne in die Menge. Menschen wurden zerfetzt, Körperteile flogen durch die Luft. Jemand hatte auf den Knopf gedrückt. "Who the fuck did that?", war die erste Reaktion eines hochrangigen Militärs, der das Geschehen in Saudi-Arabien mitverfolgte.

Ein Flugzeug strahlt mit einem Scheinwerfer auf eine Reihe von Autos

"Todesengel" werden Kampfdrohnen in Pakistan und Afghanistan genannt.

Verfehlte Ziele

Bis heute ist nicht bekannt, wer für den ersten US-amerikanischen Drohnenangriff verantwortlich war. Grund hierfür sind vor allem die Verstrickungen in der Kommandostruktur des US-Militärs, der CIA und der Nato, die im Krieg in Afghanistan zu ­einem schwer zu durchschauenden Geflecht an Verantwortlichkeiten geführt hat. Hierarchie und Handlungsbefugnisse bleiben für Außenstehende oftmals unklar. In vielen Fällen, wie auch dem beschriebenen, ist später nicht mehr nachzuvollziehen, wer zu was berechtigt war, wer über wen das Sagen hatte und wem letztendlich die Hauptverantwortung zuzuschreiben ist. Insbesondere betrifft dies das Zentralkommando der Vereinigten Staaten, die CIA, das Weiße Haus sowie das Pentagon.

Noch weniger wurde bekannt über jene Menschen, die durch den Angriff am 7. Oktober 2001 getötet wurden. Bestätigt wurde hingegen, dass das eigentliche Ziel des Angriffs, Mullah Omar, erfolgreich fliehen konnte. Er starb erst über ein Jahrzehnt später eines natürlichen Todes.

Seit diesem Tag gehören Drohnen-Angriffe zum Alltag in vielen Regionen Afghanistans. Darüber hinaus sollte dieser ­erste Angriff zum Exempel werden für all die Angriffe in den darauffolgenden Jahren, die im Schatten der Weltöffentlichkeit stattfanden. Bereits der erste Drohnenangriff verfehlte sein Ziel und tötete Menschen, deren Geschichte und Identität nie bekannt wurden.

Dieses Szenario wiederholt sich seit nun mehr als 16 Jahren immer und immer wieder. Unterdessen hat sich der Schauplatz des Drohnenkrieges massiv ausgeweitet. Er findet nicht nur am Hindukusch oder in den Bergen Nordwaziristans statt, sondern auch in den Wüsten Jemens und Somalias sowie im Irak und in Syrien – Regionen, die viele Menschen im Westen seit einigen Jahren nur noch mit Krieg und Terror assoziieren. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass für all dieses Blutvergießen nicht nur Extremisten, Milizen oder anderweitige bewaffnete Aufständische wie die Taliban, al-Qaida oder der Islamische Staat verantwortlich sind.

Schuld auf sich geladen haben auch Politiker im Westen, die die Kriege in jenen Regionen mit zu verantworten haben und während ihrer Amtszeiten als politische Entscheidungsträger zur Militarisierung der eigenen Gesellschaften beigetragen haben. Die Kriegsführung mit bewaffneten Drohnen ist letztlich das logische Resultat jener technisch-militärischen Aufrüstung. Hinzu kommen weitere Gräuel des "Kriegs gegen den Terror", etwa das Foltergefängnis in Guantánamo sowie andere Foltereinrichtungen, die von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten im Laufe der Jahre errichtet wurden und in vielen Regionen der Welt zu finden sind – oder die mittlerweile ebenfalls zum Kriegsalltag gewordenen, verdeckten Einsätze von amerikanischen Spezialkommandos.

Für die Menschen in den betroffenen Regionen, seien es nun Afghanen, Jemeniten oder Somalier, werden all diese Dinge lediglich als eines betrachtet, nämlich als Terror. Sie unterscheiden nicht, ob ihre Familien durch Autobomben von al-Qaida oder durch Hellfire-Raketen einer Predator-Drohne getötet wurden. Dieser Unterschied wird nur von jenen gemacht, die sich im Recht sehen, mit aller Rücksichtlosigkeit das Leben von Millionen Menschen zur Hölle machen. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der das Drohnenprogramm sowie den Schattenkrieg der USA entscheidend ausgeweitet hat, schien sich sehr wohl bewusst zu sein über den Schrecken, den sein Drohnenkrieg verbreitete: "Ich bin wohl ganz gut im Töten", soll er Zeitungsberichten zufolge vor seinen Beratern gescherzt haben.

De facto haben die USA die ganze Welt zum Kriegsgebiet erklärt.

Emran
Feroz
Autor von "Tod per Knopfdruck"

Verdeckte Operationen

Ende 2017 fand der Drohnenkrieg der USA in mindestens sieben Staaten statt: Afghanistan, Pakistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen und Somalia. Unterschieden wird in der Regel zwischen sogenannten konventionellen Kriegszonen und jenen Gebieten, in denen offiziell kein Krieg herrscht, aber verdeckte Operationen der CIA stattfinden. In diesen Ländern herrscht, so die Argumentation, inoffiziell Krieg. Demnach gelten auch gewisse Kriegsrechte. Afghanistan ist seit dem Sturz der Taliban-Regierung Ende 2001 im Kriegszustand; Irak seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 bis zum Abzug der US-Truppen 2009 und erneut seit 2014, als die von Washington angeführte Militärkoalition "Inherent Resolve" begann, gegen den Islamischen Staat vorzugehen – ebenso wie in Syrien. In Libyen, Somalia, Jemen und Pakistan herrscht offiziell kein Krieg, in den die USA involviert sind, weshalb die dortigen Drohnenangriffe der CIA um einiges kritischer betrachtet werden.

Der von Washington begonnene "Krieg gegen den Terror" hat in den vergangenen Jahren allerdings gezeigt, dass er keine Grenzen kennt. De facto wurde die ganze Welt zum Kriegsgebiet erklärt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein bis dato einzigartiges Imperium: Kein Land der Welt hat jemals mehr ­Militärbasen auf dem Globus errichtet. Während sich in den USA keine einzige ausländische Militärbasis finden lässt, gibt es über 800 US-Militärbasen im Ausland, 174 Einrichtungen ­davon in Deutschland, 113 in Japan, 83 in Südkorea.

Hunderte weitere lassen sich über die ganze Erde verteilt ­finden, darunter etwa in Zentralasien, Afrika sowie im Nahen Osten. Weltweit unterhalten die USA zum gegenwärtigen Zeitpunkt mindestens 60 Drohnen-Basen, die für den Geheimkrieg Washingtons unabdingbar geworden sind. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass weitere im Geheimen existieren.

Mit freundlicher Genehmigung des Westend-Verlags entnommen aus Emran Feroz: Tod per Knopfdruck. Das wahre Ausmaß des US-Drohnen-Terrors oder Wie Mord zum Alltag werden konnte, Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2017

 

Amnesty-Leitprinzipien für die Verwendung und Weitergabe bewaffneter Drohnen

  • Staaten müssen sicherstellen, dass der Einsatz bewaffneter Drohnen dem Völkerrecht und internationalen Standards entspricht und insbesondere das Recht auf Leben sicherstellt.
  • Staaten müssen die vollständige Transparenz bei ­bewaffneten Drohnenoperationen gewährleisten.
  • Staaten müssen robuste Überwachungsmechanismen für den Einsatz bewaffneter Drohnen einführen.
  • Staaten müssen die Rechenschaftspflicht für Einsätze bewaffneter Drohnen sicherstellen.
  • Staaten müssen strenge Kontrollen bei der Weitergabe von bewaffneten Drohnen einführen.
  • Staaten sollen sich für die Einführung regionaler und internationaler Standards zur Regelung des ­Einsatzes und der Weitergabe von bewaffneten
  • Drohnen einsetzen.
  • Staaten sollen eine sinnvolle Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Entwicklung von Standards zum Einsatz und Transfer bewaffneter Drohnen sicherstellen.

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