Amnesty Journal 06. Juni 2022

Bei wie viel Grad schmilzt Misstrauen?

In einer Sandwüste sind in Reihen Sonnenkollektoren angelegt, eine Solarfam.

Heiß, heißer, Naher Osten: Die Klimakrise trifft Israel und seine Nachbarstaaten ­gleichermaßen. Kooperationen könnten allen Beteiligten helfen.

Aus Beer Sheva von Till Schmidt

Der Sommer 2021 gab einen Vorgeschmack auf die kommenden Jahrzehnte. Mit Temperaturen zwischen 40 und 46 Grad sah sich Israel im August einer langen und ungewöhnlichen Hitzewelle ausgesetzt. Auch Ende November war es ungewöhnlich heiß. Dazu kamen im Lauf des Jahres weitere Extremwetterereignisse, wie zum Beispiel Starkregenfälle, die für die Klimakrise typisch sind. In den vergangenen drei Jahrzehnten betrug der durchschnittliche Temperaturanstieg in Israel 1,7 Grad. Das im Pariser Klimaabkommen genannte Ziel wurde damit bereits überschritten.

Eine globale Erwärmung von mehr als 1,5 Grad dürfte auf der gesamten Welt zu tödlichen Hitzewellen, verstärkter Wasserknappheit, Ernteausfällen und dem Kollaps von Ökosystemen führen. Im ­konfliktreichen Nahen Osten steigen die Temperaturen jedoch besonders schnell. Daher sind die Effekte der Klimakrise – ökonomische Zusammenbrüche oder ­verstärkte militärische Spannungen – für die gesamte Region eine besonders große Herausforderung. Oder in den drastischen Worten der israelischen Tageszeitung Haaretz: "Der Nahe Osten brennt."

Versäumnisse der Regierung Netanjahu

Israel ist ein relativ kleines Land mit lediglich 9,3 Millionen Einwohner_innen. Gleichzeitig aber liegt die Pro-Kopf-Emission im oberen Drittel der OECD-Staaten. Im Oktober 2021 legte Matanyahu Englman, der höchste staatliche Ombudsmann, eine aufsehenerregende Evaluation der nationalen Klimapolitik vor. Demnach versäumten es Politik und Verwaltung in den vergangenen Jahren, die Bekämpfung der Klimakrise in den Fokus zu rücken.

Der Analysezeitraum von Englmans Bericht geht zurück bis ins Jahr 2015 und umfasst damit weitgehend die Regierungszeit von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Wichtige klimapolitische Entscheidungen scheiterten an unzureichender Finanzierung, Pläne wurden nicht umgesetzt. Insgesamt seien die ohnehin moderaten Reduktionsziele nicht eingehalten worden, heißt es in dem Bericht. Ein Beispiel: Bis 2030 sollen erneuerbare Energien  30 Prozent des Energiebedarfs decken – bisher beträgt ihr Anteil lediglich rund zehn Prozent.In den vergangenen Monaten hat sich allerdings einiges geändert. "Ich beobachte eine neue Energie und ein weitaus schnelleres Tempo im Kampf gegen den Klimawandel", stellt Sue Surkes fest, Reporterin für Umweltthemen bei der Zeitung Times of Israel.

So kündigte der seit Juni 2021 amtierende Premierminister Naftali Bennett neue Emissionsziele an, ließ die Klimakrise als "strategisches Bedrohungsszenario" einstufen und forderte die staatlichen Institutionen auf, dies in ihre Pläne einzubeziehen. Surkes erklärt diese Veränderung auch mit der Zusammensetzung der neuen Koalitions­regierung, die ein vielfältigeres Parteienspektrum als ihre Vorgängerin umfasst.

Ich beobachte eine neue Energie und ein weitaus schnelleres Tempo im Kampf gegen den Klimawandel.

Sue
Surkes
Reporterin für Umweltthemen bei der Zeitung "Times of Israel"

Auf dem UN-Klimagipfel in Glasgow im November 2021 erklärte Bennett, die Emission von Treibhausgasen bis zum Jahr 2050 auf Null reduzieren zu wollen und verwies auf einen 100-Punkte-Aktionsplan seines Kabinetts. Zudem betonte er die Bedeutung Israels als innovativer High-Tech-Nation. "Auf diesem Gebiet kann Israel tatsächlich einen Beitrag ­leisten", meint auch Surkes. Sie hebt israelische Erfindungen wie die Tröpfchenbewässerung und die Meerwasserentsalzung hervor. Dazu komme Israels weltweit führende Rolle, was die Verwendung von wiederaufbereitetem Abwasser (etwa in der Landwirtschaft oder in öffentlichen Parks) und die Forschung zu künstlichem Fleisch angeht. Die Bereiche Ernährung und Bewässerung haben in der Klima­krise große Bedeutung.

Israels Staatspräsident Isaac Herzog hat indes mit dem Israeli Climate Forum ein vielversprechendes Expertengremium gegründet, das die politischen Entscheidungsträger_innen beraten soll. "Was trotz dieser zahlreichen Bemühungen allerdings immer noch fehlt, ist ein na­tionales Klimaschutzgesetz", betont Sue Surkes. Dies sei jedoch die Voraussetzung dafür, den ökologischen Zielen tatsächlich näherzukommen.

Wasserknappheit als zentrales Problem

Dass die Klimakrise im Nahen Osten nicht nur nationale, sondern vor allem regionale Lösungen erfordert, wurde in den  vergangenen Monaten immer wieder betont. Gidon Bromberg teilt diese Überzeugung seit Jahrzehnten. Er gründete 1994 infolge des Oslo-Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinenser_innen und des Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien die Nichtregierungsorganisation EcoPeace Middle East. Sie hat ­Büros in Tel Aviv, Ramallah und Amman, beschäftigt knapp 60 Mitarbeitende und wird von vielen Freiwilligen unterstützt. "Über zahlreiche Projekte verbinden wir Umweltschutz mit Peacebuilding und ­Kooperation vor Ort", sagt Bromberg.

Der Umgang mit Wasser spielt für ­EcoPeace ein zentrale Rolle, da die bereits jetzt existierende Wasserknappheit in Kombination mit der Klimakrise eine existentielle Bedrohung für die Menschen in der Region darstellt. Zudem ­wären nachbarschaftliche Kooperationen vor dem Hintergrund geteilter Wasser­ressourcen sinnvoll. Mit der Initiative "Green Blue Deal" ruft EcoPeace zur ökologischen Zusammenarbeit in der gesamten Region auf.

Nachbarschaftlichkeit von Nöten

Als Beispiel für Klimakooperation verweist Bromberg auf ein Abkommen zwischen Jordanien, Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten vom November 2021. Im dünn besiedelten Jordanien soll eine große, von den Emiraten gebaute Solaranlage entstehen, die Israel mit erneuerbarer Energie versorgt. Israel hat sich im Gegenzug dazu verpflichtet, das notorisch wasserarme Jordanien mit einer großen Menge entsalztem Wasser aus dem Mittelmeer zu versorgen. "Auf beiden Seiten lohnt sich die Kooperation auch wegen der Kosten", sagt Bromberg nüchtern. Erst 2021 hatten Israel und die Emirate diplomatische Beziehungen aufgenommen.

In Teilen der jordanischen Bevölkerung löste das Kooperationsprojekt Proteste aus. Die Kooperation mit Israel galt mehreren tausend Demonstrierenden als grundlegendes Problem. Sue Surkes von Times of Israel sieht in diesem Ressentiment gegenüber dem jüdischen Staat ein Hindernis für eine umfassende regionale Zusammenarbeit. Vielversprechende regionale Austauschforen wie die "Cyprus Government Initiative for Coordinating Climate Change Action in the Eastern ­Mediterranean and Middle East", in der sich Politik, Wissenschaft und NGOs aus dem gesamten Nahen Osten versammeln, haben ambitionierte Ziele angekündigt, aber bisher noch keine Ergebnisse vorgelegt.

Die regionale Kooperation erfolgt jedoch nicht immer in ökologischer oder klimaschützender Absicht. Ein israelisch-emiratisches Joint Venture bringt Erdöl aus den Emiraten über Israel nach Europa. Nach landesweiten Protesten und einer Petition von Umweltschutzgruppen beim Obersten Gerichtshof limitierte das israelische Umweltministerium im Dezember 2021 die Lieferungen schließlich auf sechs Tanker und eine Gesamtmenge von zwei Millionen Tonnen Öl pro Jahr.

Till Schmidt ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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