Amnesty Journal 09. Dezember 2022

Klangbrücken zwischen den Kulturen

Eine junge Frau mit schwarzem langen Haar trägt ein Top und eine Bluse darüber, sowie Ohrringe und posiert für ein Foto, neigt ihren Kopf dabei etwas zur rechten Seite.

Für ihr neues Album "Roya" hat die israelisch-iranische Sängerin Liraz Charhi heimlich Musiker*innen aus dem Iran nach Istanbul geholt. Das Resultat ist versöhnender globalisierter Pop.

Von Thomas Winkler

Die Entstehungsgeschichte von "Roya" ist erstaunlich: Die Musiker*innen standen sich gegen­über, sahen sich in die Augen und musizierten im selben Raum, als sie das Album aufnahmen. In diesem Fall ist dies keine Selbstverständlichkeit, denn Sängerin Liraz Chari ist israelische Staatsbürgerin, die Musiker*innen, mit denen sie ihr Album aufgenommen hat, leben jedoch im Iran. Israel und die Islamische Republik sind bekanntlich alles andere als freundschaftlich verbunden.

Die Aufnahmen in Istanbul waren höchst gefährlich, die Namen der aus ­Teheran angereisten Musiker und vor ­allem der Musikerinnen müssen bis ­heute geheim bleiben. "Ich kann mich nur noch fragmentarisch erinnern", ­erzählte Liraz in einem Interview. "Die Angst und die Sorgen, als sie sich auf den Weg machten. Die Tränen der Freude und der Erleichterung, als wir uns endlich umarmen konnten. Und die Musik, die wir zusammen machten. Was für eine Musik!"

Versöhnung der Verschiedenheiten

Man hört "Roya" seine dramatische Entstehungsgeschichte durchaus an, vor allem in Balladen wie "Tanha" oder "Gandomi", die Elemente der klassischen persischen Musik aufgreifen. Daneben überraschen aufgeräumte Lieder wie "Mimiram" mit sommerlichem Pop, durch den nur eine sanfte Melancholie weht. Und "Junoonyani" flattert nervös wie ein hochmodernes K-Pop-Stück, konterkariert dies aber mit Harmonien aus der persischen Tanzmusik. Das Ergebnis ist globalisierter Pop, der Zwischentöne und Verschiedenheiten nicht übertüncht, sondern miteinander versöhnt.

Das musikalische wie politische Versöhnungsprojekt scheint bereits in der Biografie der heute 44-jährigen Liraz angelegt zu sein: Ihre Eltern, sephardische Juden, wanderten als Teenager in den späten 1960er Jahren aus dem Iran nach Israel aus. Ihre Tochter wurde in Ramla geboren und wuchs mit Liedern, Geschichten und Filmen aus dem Iran auf, den die Familie nach der Islamischen Revolution 1979 nicht mehr besuchen durfte: "Ich fühlte mich sehr iranisch, gleichzeitig aber auch sehr israelisch", sagt Liraz. "Wenn ich von zu Hause zur Schule ging, fühlte ich mich, als reiste ich in ein anderes Land."

 

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Fans in Israel und im Iran

Nach dem Militärdienst und einem Schauspielstudium reüssierte Liraz zuerst als TV- und Filmschauspielerin, bevor sie sich der Musik zuwandte. Schon auf ihrem ersten Album "Naz" verarbeitete sie ihr familiäres Erbe, ließ sich von iranischer Musik inspirieren und schlug Klangbrücken zwischen den beiden Kulturen. Statt auf Hebräisch sang sie in ihrer Muttersprache Farsi (siehe auch Amnesty Journal 02/2021).

Das Album fand nicht nur Fans in Israel, sondern auch im Iran. Dort lebende Musiker*innen, die zum großen Teil im Verborgenen, in ständiger Angst vor einer Entdeckung durch den Geheimdienst arbeiten müssen, nahmen mit ihr Kontakt auf. Weil Popmusik im Iran einer strengen Zensur unterliegt und Frauen nicht als Solistinnen auftreten dürfen, plante Liraz ihr zweites Album deshalb als virtuelle Zusammenarbeit mit den neuen Kolleg*innen: E-Mails gingen hin und her, über Skype wurde konferiert, die Musik fand durchs Netz zusammen, aber getroffen hatten sich die Beteiligten nicht, als "Zan" vor zwei Jahren erschien.

Das wurde für "Roya" nun nachgeholt. Die neue Nähe, die Intensität zwischen der Sängerin und ihrer anonymen Band kann man hören, das Album klingt organischer als seine Vorgänger, aber die Musik hat ihren brückenschlagenden Charakter erhalten. Was für ein Glück, was für eine Musik.

Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Das Album von Liraz, "Roya", ist auf Glitterbeat/Indigo erschienen.

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von Thomas Winkler



Der Titel klingt nach einem popfeministischen Essay, aber stattdessen ist "Your Feminism Is Not My Feminism" eine verrauchte, mit Jazz-Klischees spielende Ballade auf "Stay Close To Music". Das neue Album von Mykki Blanco ist ein typisches Beispiel für ihre Kunst. Die Musikerin, Dichterin und Aktivistin ist eine Verwandlungskünstlerin, die alles im Fluss hält. Ihr Erscheinungsbild, ihre Botschaft, ihr Geschlecht, die Musik sowieso, alles ist in stetem Wandel begriffen.

Geboren 1986 als Michael David Quattlebaum Jr. in Kalifornien, hat Mykki Blanco, die sich seit einigen Jahren als nonbinär identifiziert, als Kunstfigur verschiedene Aggregatzustände durchlaufen. In der Techno-Szene erregte sie Aufsehen als Drag Queen am Plattenteller, im testosteronsatten HipHop war sie – lange vor Lil Nas X – schwule Avantgarde, den Literaturbetrieb verschreckte sie als Poetin mit queeren Positionen, als Aktivistin schlüpfte sie in die Rolle einer braven weißen Hausfrau. Die New York Times beschrieb sie als "respekteinflößende Präsenz in der Kunst- und Cabaret-Szene". Sie erregte dermaßen Aufsehen, dass Stars wie Kanye West, Charli XCX oder Madonna um Zusammenarbeit baten, Mykki Blanco blieb aber immer Außenseiterin, Subkultur, Anti-Mainstream.

Auf dem neuen Album reflektiert sie ihre vielen Rollen, erzählt im Bekenntnis-Track "Carry On" vom Leben als Schwarzer Schwuler mit AIDS und fragt, weniger provokativ als eher neugierig: "What you see when you look at me?" ("Was siehst du, wenn du mich ansiehst"?) Die Antwort ist so komplex wie die Musik, die zwar eindeutig vom Dancefloor und Hip­Hop kommt, aber auch vor Pop nicht zurückschreckt und sich längst aufgemacht hat in experimentelle Sphären zwischen Jazz und Klangkunst. "Stay Close To Music" ist ein Kaleidoskop, das zwar nicht alle, aber sehr viele Facetten einer kaum fassbaren Persönlichkeit abbildet.

Mykki Blanco: "Stay Close To Music" (PIAS/Transgressive/Rough Trade)

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