Amnesty Journal Iran 27. März 2023

"Eine noch nie dagewesene Protestbeteiligung im ganzen Land"

Vogelperspektive auf Menschen, die auf einer Straße demonstrieren.

Wie bewertet Amnesty International die Situation im Iran? Wie gelangt die Organisation an aktuelle und verlässliche Informationen? Und was müsste gegen die weit verbreitete Straflosigkeit getan werden? Die Amnesty-Expertin Nassim Papayianni über viele junge Menschen, starke Frauen und unzensierte Kommunikation.

Interview: Carl Melchers

Was ist bei den aktuellen Protesten anders als bei früheren Protestbewegungen?

Es nehmen mehr junge Menschen teil, auch Kinder, insgesamt viele Menschen unter 18 Jahren. Außerdem stehen die Rechte der Frauen im Vordergrund. Die Zwangsverschleierungsgesetze, die es der "Sittenpolizei" ermöglichten, Jina Mahsa Amini willkürlich festzunehmen, waren der Auslöser. Die Sprechchöre "Frau, Leben, Freiheit" zeigen, wie zentral der Kampf für die Rechte von Frauen ist. Und wir erleben eine nie dagewesene Protestbeteiligung im ganzen Land, unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit der Demonstrierenden. Für ein so vielfältiges Land wie den Iran ist das von großer Bedeutung.

Was genau fordern die Demonstrierenden?

Sie wollen ein Ende der weit verbreiteten Unterdrückung. Die institutionalisierte Ungleichheit soll enden. Im Kern fordern sie grundlegende Menschenrechte – insbesondere für Frauen. Denn die Zwangsverschleierungsgesetze verletzen eine ganze Reihe ihrer Rechte, darunter das Recht auf Gleichheit, den Schutz der Privatsphäre sowie die Meinungs- und Glaubensfreiheit. Außerdem erniedrigen sie Frauen und Mädchen und berauben sie ihrer Würde, ihrer körperlichen Autonomie und ihres Selbstwerts. Frauen und Mädchen können willkürlich festgenommen und inhaftiert werden, und ihnen kann der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen, Behörden und sogar zu Flughäfen verweigert werden, wenn sie ihr Haar nicht bedecken. Die "Sittenpolizei" überwacht die gesamte weibliche Bevölkerung, aber die Überwachung des weiblichen Körpers ist nicht auf den Staat beschränkt. Diskriminierende und entwürdigende Gesetze ermöglichen es auch Privatpersonen, Frauen und Mädchen in der Öffentlichkeit zu belästigen und anzugreifen. Solange diese Gesetze und Vorschriften nicht abgeschafft sind, kann dieselbe Gewalt, die zum Tod von Jina Mahsa Amini führte, gegen Millionen von Frauen und Mädchen systematisch fortgesetzt werden.

Für welche verfolgten Frauen setzt sich Amnesty schon länger ein?

Amnesty setzt sich seit einigen Jahren für Frauenrechtsaktivistinnen ein, die zu Unrecht inhaftiert wurden, weil sie sich gegen die Schleierpflicht im Iran wandten, darunter Yasaman Aryani, Saba Kordafshari, Monireh Arabshahi und Nasrin Sotoudeh.

Wir haben die Namen und Angaben von Hunderten Menschen erfasst, die von Sicherheitskräften getötet wurden, darunter mindestens 44 Kinder.

Nassim
Papayianni
Amnesty-Expertin

Im Iran werden die Medien, das Internet und Teile der elektronischen Kommunikation zensiert. Wie kommt Amnesty an glaubwürdige ­Informationen?

Wir recherchieren für unsere Berichte und Kampagnen aus der Distanz, weil wir nie im Iran arbeiten durften. Einige von uns haben jahrelange Erfahrung mit dieser Arbeitsweise. Wir verwenden online veröffentlichtes audiovisuelles Beweismaterial, das von unserem Digital Verification Corps überprüft wird. Wir stützen uns auch auf Erklärungen, die Rechtsbeistände oder Angehörige von Betroffenen in der Öffentlichkeit abgeben, zum Beispiel auf Twitter. Auch die Behörden geben Erklärungen ab. Und wir können in vielen Fällen Aussagen von Augen­zeug*in­nen oder Betroffenen einholen. Wir bieten auf unseren Kanälen in Online-Netzwerken auf Persisch an, dass man sich vertraulich an uns wenden kann, wenn man beispielsweise Augenzeug*in eines Vorfalls ist. Dazu bieten wir eine Telefon-Hotline-Nummer für WhatsApp, Signal und Telegram an.

Reagieren Menschen auf diese ­Aufrufe?

Ja, wir erhalten zahlreiche Nachrichten von Menschen im Iran. Wir arbeiten auch eng mit Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen zusammen, die nicht im Iran leben.

Wie beurteilt Amnesty die vielen ­Todesurteile?

Amnesty kritisiert scharf, dass die Behörden die Todesstrafe einsetzen. Es handelt sich um einen verzweifelten Versuch, an der Macht zu bleiben und der Öffentlichkeit Angst einzujagen.

Was weiß Amnesty über die zahlreichen Demonstrierenden, die bei Protesten getötet wurden?

Wir haben die Namen und Angaben von Hunderten Menschen erfasst, die von Sicherheitskräften getötet wurden, darunter mindestens 44 Kinder. Von der Gewalt sind ethnische Minderheiten unverhältnismäßig stark betroffen. So setzen Sicherheitskräfte verstärkt scharfe Munition ein, um Proteste in den Provinzen zu zerstreuen, in denen mehrheitlich Kur­d*in­nen und Belutsch*innen leben. Mehr als die Hälfte der dokumentierten Tötungen entfallen auf diese beiden Gruppen, und Kinder aus der Minderheit der Belutsch*innen und Kurd*innen machen etwa 63 Prozent aller Kinder aus, die bei den aktuellen Protesten getötet wurden. Wir haben dokumentiert, dass die Sicherheitskräfte vorsätzlich und rechtswidrig Gewalt gegen Demonstrant*innen und Umstehende einsetzen, einschließlich scharfer Munition. Ende September 2022 wurde ein Dokument geleakt, aus dem hervorging, dass das höchste militärische Gremium die Kommandeure der Streitkräfte in allen Provinzen angewiesen hat, "gnadenlos gegen Demonstranten vorzugehen". Das Dokument enthüllte den Plan der Behörden, die Proteste systematisch niederzuschlagen. Wir haben Beweise dafür vorgelegt, dass die Behörden das reguläre Militär, die Revolutionsgarden, die Bereitschaftspolizei sowie Sicherheitskräfte in Zivil bei der Niederschlagung der Proteste eingesetzt haben.

Was fordert Amnesty, um der weitverbreiteten Straflosigkeit zu begegnen?

Amnesty fordert, dass all diese Kräfte zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Mittlerweile ist eine UN-Ermittlungsmission eingerichtet worden, die auf der Grundlage von internationalem Recht ­arbeitet. Die Mitarbeiter*innen dieser Mission können Beweise sammeln, um auch mutmaßliche Vorbereiter von Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen zu können. Amnesty fordert außerdem, dass gegen alle Verantwortlichen strafrechtlich ermittelt wird, bei denen der begründete Verdacht besteht, dass sie an völkerrechtlichen Verbrechen und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind.

Carl Melchers ist Politologe und freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Nassim Papayianni arbeitet im Iran-Team von Amnesty International in London. Sie ist seit 2011 für Amnesty tätig, leitet Kampagnen und recherchiert zu vielen Menschenrechtsthemen im Iran.

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