Amnesty Journal 22. Juni 2021

"Ich werde bestraft, weil ich bestraft wurde"

Ein Mann mit kurzem Bart in einem Häftlingsanzug sitzt im Halbdunkeln an einem Tisch.

Haft ohne Anklage: Mohamedou Ould Slahi, dargestellt von Tahar Rahim, in "The Mauritanian".

Der neue Hollywood-Thriller "The Mauritanian" erzählt vom Schicksal des ehemaligen Guantánamo-Häftlings Mohamedou Ould Slahi. Über seine Zeit im Gefängnis schrieb er das "Guantanamo Tagebuch". Ein Gespräch über das Leben danach.

Interview: Anna-Theresa Bachmann

Sie saßen 14 Jahre ohne Anklage im US-Gefangenenlager Guantánamo, erlitten Demütigung und Folter. 2016 ließen die US-Behörden Sie frei und brachten Sie nach Mauretanien zurück. Haben Sie mittlerweile wieder ins Leben zurückgefunden?

Die Frage geht davon aus, dass ich mir mit 30 – dem Alter bei meiner Festnahme und Verschleppung in die USA – bereits ein Leben aufgebaut hatte. Aber dem war nicht so. In diesem Alter haben sich all meine Freunde gute Jobs gesichert und genug Geld gespart, um ein angenehmes Leben zu führen. Sie können überall hinreisen und das Leben genießen. Ich muss noch viel aufholen und die "Mission Impossible" antreten, meinen Ruf wiederherzustellen. Ich versuche immer positiv und glücklich zu sein. Aber ich kämpfe gleichzeitig gegen das an, was ich als Ungerechtigkeit beschreibe. Und gegen das Stigma. Denn ich werde nach wie vor bestraft, weil ich bestraft wurde.

Sie leben heute im Haus Ihrer Familie in Nouakchott. Während Ihrer Haft hat sich viel verändert – Ihre Mutter, zu der Sie ein enges Verhältnis hatten, ist gestorben, für jüngere Familienmitglieder waren Sie ein Fremder. Finden Sie zu Hause Unterstützung?

Als ich hier ankam, brauchte ich sehr viel Hilfe und war traumatisiert, bin es noch immer. In Mauretanien gibt es keine Ärzte, zu denen man geht, um über seine Alpträume zu reden. Gott sei Dank versuchen mich meine Verwandten zu unterstützen. Aber die Menschen in meiner Familie sind einfache Leute. Ich war der Erste, der in ein Flugzeug stieg und Mauretanien verließ, der Erste, der ein Stipendium zum Studieren in Deutschland hatte, der Erste, der nach Afghanistan ging und der von den USA in Mauretanien gekidnappt wurde. Viele der Dinge, die ich getan habe oder die mir angetan wurden, stellen meine Familie vor große Herausforderungen.

Gab es Kleinigkeiten, an denen Sie nach Ihrer Rückkehr gemerkt haben, dass Sie viel verpasst haben?

Die ersten neun Jahre in Haft durfte ich nicht fernsehen. Ich habe davon geträumt, als freier Mensch Satellitenfernsehen mit allen Kanälen zu besitzen. Als ich freikam, hat mir meine Familie zwei Fernseher und zwei Satelliten besorgt. Ich habe meine Nichte gebeten, mir die Kanäle zu installieren. Sie schaute mich nur an und sagte: "Onkel, ich habe noch nie einen Fernseher berührt, ich benutze mein Handy." Da habe ich mich sehr alt gefühlt.

Im Kino ist nun "The Mauritanian" zu sehen. Sie waren bei den Dreharbeiten in Mauretanien und Südafrika teilweise dabei. Wie war das für Sie?

Der Film basiert auf meinem Tagebuch, das ich in Guantánamo geschrieben habe und das während meiner Haft veröffentlicht wurde. "The Mauritanian" geht aber darüber hinaus. So erzählt der Film auch von meiner Kindheit und meinem Leben nach der Haft. Die Filmemacher haben in der Vorbereitung mit FBI- und CIA-Agenten gesprochen. Einige Dinge habe ich erst durch "The Mauritanian" erfahren. Natürlich stellt der Film eine Dramatisierung dar, aber er beruht auf Fakten. Erst wenige Tage vor Drehbeginn in Südafrika haben mir die mauretanischen Behörden wieder einen Reisepass ausgestellt, der mir bis dahin verwehrt wurde. Bei einigen Szenen wollte ich aber nicht dabei sein. Zum Beispiel wenn es um Folter ging. Ich sage im Film auch einen Satz auf Deutsch, weil ihn Tahar Rahim, der mich spielt, einfach nicht herausbekommen hat: "Deutschland war gut zu mir."

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Sie haben in den 1990er-Jahren in Duisburg studiert, sprechen fließend Deutsch, einer Ihrer Brüder lebt in Deutschland, genauso wie Ihre US-amerikanische Frau und Ihr gemeinsamer Sohn. Ein Visum verweigern Ihnen die deutschen Behörden dennoch. Warum?

Meine heutige Frau hat für einen amerikanisch-palästinensischen Anwalt gearbeitet, der Gefangene in Guantánamo vertreten hat – darunter meinen Zellennachbarn. So haben wir uns kennengelernt und blieben nach meiner Entlassung in Kontakt. Sie bekam einen Job als Menschenrechtsanwältin in Berlin angeboten. Darüber haben wir uns gefreut, weil die Entfernung nach Mauretanien wesentlich kürzer ist. Wir dachten, dass ich sehr schnell zu ihr kommen kann. Aber das hat nicht funktioniert. Wir haben gesehen, dass die USA sehr großen Einfluss auf Deutschland hat und vermuten, dass Druck seitens der US-Regierung ausgeübt wird.

Als junger Mann sind Sie während Ihres Studiums nach Afghanistan gereist, wollten für die Mudschaheddin kämpfen. Während Ihrer Verhöre in Guantánamo hat man Sie immer wieder nach Ihren früheren Verbindungen zu Al-Qaida befragt. Heute setzen Sie sich in Mauretanien gegen Extremismus ein. Was geben Sie jungen Menschen mit?

Zu meinen Nichten und Neffen sage ich immer: Denkt kritisch. Ich war damals sehr naiv und wirklich davon überzeugt, die Welt zum Positiven zu verändern. Die Mudschaheddin hatten jedoch ihre eigene Agenda. Als ich gesehen habe, dass sie sich stritten, gegenseitig töteten und das, was Russland nicht zerstört hatte, in Trümmer legten, habe ich Afghanistan verlassen. Rückblickend fühle ich mich ausgenutzt. Gewalt ist das Spiel der Regime. Auf der Seite der Bürger stehen das Recht und die Verfassung. Diese Rechte müssen wir ohne Gewalt einfordern, gerade in vielen arabischen Staaten. Gruppen wie der IS sind ja keine Krankheit, sondern ein Symptom.

Sie sagen, dass Sie den USA verziehen haben. Mit dem ehemaligen Wärter Steve Wood, der Sie in Guantánamo bewacht hat, sind Sie heute gut befreundet. An der US-Regierung üben Sie weiterhin Kritik. Was fordern Sie von der Regierung Joe Bidens in Bezug auf Guantánamo?

Steve ist für mich wie ein jüngerer Bruder. Ich erinnere mich an den Tag, an dem wir uns in Guantánamo das erste Mal begegnet sind. Er kam in meine Zelle und fragte mich, ob ich Kaffee trinken wolle. Ich war sehr verängstigt und zurückgezogen, wollte mit niemandem reden. Ich verließ die Zelle und nahm seinen Kaffee an. Steve bot mir an, mit ihm Karten zu spielen, und von diesem Moment an waren wir befreundet. Wir haben viele Jahre gebraucht, um unsere Freundschaft öffentlich zu machen.

Zu Joe Biden: Ich glaube, dass er ein guter Mann ist. Er hat sowohl seine Frau als auch seinen Sohn verloren, und ich kann mir nur vorstellen, welche Art von Schmerz er durchmachen musste. Ich habe Biden einen Brief geschrieben und hoffe, dass er sein Versprechen, das illegale Internierungslager zu schließen, einhalten wird. Und ich hoffe, dass die deutsche Regierung Haltung zeigt und Biden ebenfalls an sein Versprechen erinnert.

"The Mauritanian". UK 2021. Regie: Kevin Mcdonald. Darsteller: Tahar Rahim, Jodie Foster, Benedict ­Cumberbatch.

Mohamedou Ould Slahi: Das Guantanamo Tagebuch ­unzensiert. Aus dem Amerikanischen von Susanne Held. Tropen Verlag, Stuttgart 2018, 495 Seiten, 20 Euro.

Anna-Theresa Bachmann ist freie Reporterin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Mohamedou Ould Slahi

war 14 Jahre lang, von 2002 bis 2016, in Guantánamo Bay inhaftiert. Er hatte in den 1990er-Jahren ein Ausbildungslager für islamistische Kämpfer in Afghanistan besucht und auch Kontakt zu Al-Qaida-Terroristen. Nach den 9/11-Anschlägen wurde er von der CIA als Verdächtiger nach Guantánamo gebracht. Zwar ordnete ein Richter bereits 2010 aus Mangel an Beweisen seine Freilassung an, es dauerte aber sechs weitere Jahre, bis eine US-Untersuchungskommission ihn entlastete. Der 50-Jährige lebt heute wieder bei seiner Familie in Nouakchott, Mauretanien.

WEITERE FILMTIPPS

Rekonstruktion eines Verbrechens

von Jürgen Kiontke

Der Mord an Saudi-Arabiens bekanntestem Journalisten wird nun auch filmisch untersucht. Jamal Khashoggi betrat am 2. Oktober 2018 die saudische Botschaft in Istanbul, um Scheidungspapiere abzuholen, und sollte sie nicht mehr lebend verlassen – ein eigens eingeflogenes "Spezialisten-Team" ermordete ihn dort. In seinem Film "The Dissident" geht Bryan Fogel den Hintergründen dieses Staatsverbrechens nach. Er hatte Zugang zu Beweismaterial, führte zahlreiche Interviews mit Khashoggis Mitstreiter_innen und türkischen Ermittlern. So entsteht das Bild eines Kampfes zwischen dem Medienprofi und dem saudischen Staat, bei dem es um den Einfluss autoritärer Eliten, den Kampf um Menschenrechte und Pressefreiheit geht. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman bestreitet jede Verantwortung für den Mord und gibt lapidar zu Protokoll, er könne schlecht wissen, was seine Beamten den ganzen Tag über machten. In einem Prozess wurden einige Helfershelfer verurteilt, die Strafe wurde aber zum Teil ausgesetzt. Fogel erzählt das spannend, aber auch mit einigen Brutalitäten – etwa, wenn es darum geht, wie Khashoggis Leiche verschwand. Dabei entstanden umfangreiche Tonbandprotokolle, die türkische Ermittler freigaben. Dieser recherchestarke und engagierte Film sorgt mit dafür, dass der Fall Khashoggi aktuell bleibt. "Ich hoffe, die Menschen fühlen sich beim Zuschauen in der Verantwortung, selbst aktiv zu werden", sagt Fogel.

"The Dissident". USA 2020. Regie: Bryan Fogel. Auf diversen Streaming-Diensten verfügbar.

Rassismus auf dem Rasen

von Jürgen Kiontke

Ein besonderes Kapitel in der Geschichte der Fußballnationalmannschaft nimmt der Dokumentarfilmer Torsten Körner in "Schwarze Adler" in den Blick: die People of Color, die es in diese Elitetruppe des deutschen Fußballs geschafft haben. Spieler wie Erwin Kostedde, der in den 1970er Jahren der erste war, und Jimmy Hartwig kommen in diesem Film zu Wort. Sie berichten vom innigen Wunsch, zur Nationalelf zu gehören, und über Diskriminierungserfahrungen: "Ich habe mich drei Stunden am Tag gewaschen, weil ich weiß sein wollte", berichtet der dreimalige Nationalspieler Kostedde, Sohn eines US-Soldaten und einer deutschen Mutter. In Stadien sei er auch mit Hitler-Gruß empfangen worden. Der Ausnahmespieler litt lebenslang an der Ablehnung. Andere gehen offensiv mit Angriffen um. So konterte etwa Anthony Baffoe vom 1. FC Köln eine rassistische Bemerkung einst öffentlichkeitswirksam mit: "Du kannst auf meiner Plantage arbeiten." Otto Addo, Shary Reeves, Guy Acolatse äußern sich in dem Film – und natürlich Steffi Jones: Auch die vielmalige Nationalspielerin berichtet über Rassismus auf und neben dem Spielfeld, auch sie musste sich Affenlaute im Stadion anhören. "Schwarze Adler" ist ein spektakulär guter Film über deutschen Sport geworden. Sein einziges Manko ist, dass es ihn gibt. Man wünschte, die Hauptdarsteller_innen hätten die teils traumatischen Erfahrungen nicht machen müssen.

"Schwarze Adler". D 2021. Regie: Torsten Körner. Prime Video und ZDF-Mediathek.

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