Amnesty Journal Georgien 25. September 2018

Am Rande der Gesellschaft

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Die georgischen Autorinnen Nana Ekvtimishvili und Tamar Tandaschwili richten in ihren literarischen Debüts den Blick auf Menschen mit Behinderung, Waisenkinder, rebellische Mädchen und Homosexuelle.

Von Sarah Käsmayr, Tiflis

Zusammengeflickte Wohnhäuser bestimmen die weit­läufige Plattenbauwüste der durchnummerierten Mikrodistrikte in Gldani. Hierher, in diesen umgangssprachlich als "Schlafsack" bezeichneten Teil von Tiflis, kommen die Menschen in erster Linie, um sich auszuruhen; gelebt und gearbeitet wird im Zentrum. Es sind die Kinder und Jugendlichen eines Internats für kognitiv und physisch beeinträchtigte Menschen in der Kertsch-Straße, die hier am Rand der Stadt ihren Alltag verbringen.

Die Erziehungsanstalt ist heute vorbildlich eingerichtet und gut ausgestattet, mit freundlichen Außenanlagen, Spielplätzen, Klassenzimmern, gemütlichen Schlaf- und Wohnbereichen, ­Bewegungsräumen und Therapiezimmern, in denen unter ­anderem Pflanzen gezüchtet und umgetopft werden.

An diesen Ort, wenige Hundert Meter von der Metrostation "Gldani" entfernt, führt das Buch "Das Birnenfeld" seine Leserinnen und Leser. Die Autorin Nana Ekvtimishvili ist selbst in der Kertsch-Straße in der Nähe des Internats aufgewachsen. Die "Debilen", wie sie in der Nachbarschaft verachtend genannt wurden, gehörten zu ihren Spielkameraden.

Nana Ekvtimishvili, geboren 1978, besuchte eine Schule mit einem Film- und Fernsehschwerpunkt. So kam es, dass sie bereits als Jugendliche zusammen mit Klassenkameradinnen die Bewohner des Internats für einen Dokumentarfilm interviewte. Die Autorin, heute eine preisgekrönte Filmemacherin ("Die langen hellen Tage", "Meine glückliche Familie"), stellte damals den Film nicht fertig. Denn die Kinder erzählten nicht nur witzige Geschichten, die Dokumentation hätte auch Tabuthemen berührt. Im Rückblick, erzählt Ekvtimishvili im Garten des Kulturzentrums Writer’s House in Tiflis, sei ihr klar geworden: "Den Film hätte damals wohl niemand gezeigt und vermutlich auch niemand sehen wollen." Wer hätte den "Debilen" geglaubt, und wer den jugendlichen Filmemacherinnen?

Inzwischen lebt die Autorin mit ihrer Familie abwechselnd in Berlin und Tiflis. Bei den Aufenthalten in Georgien reflektiert sie über ihre Vergangenheit. Die Erinnerungen an die oft grausamen Schicksale der Internatskinder ließen ihr keine Ruhe, sagt Ekvtimishvili. Erst mehr als 20 Jahre später sei ihr die Zeit reif für die Geschichte erschienen; sie schrieb den inzwischen mehrfach preisgekrönten Roman "Das Birnenfeld", der 2015 im georgischen Original erschienen ist.

Ein Anlass dafür, die Arbeit an dem Roman aufzunehmen, sei die Begegnung mit einem der ehemaligen Nachbarskinder aus dem Internat in Tiflis gewesen. Bettelnd stand die inzwischen erwachsene Frau an einer Ampel im Stadtzentrum. Auf die Frage Ekvtimishvilis, ob sie sie wiedererkenne, habe die Frau genickt, dann aber darauf hingewiesen, dass die Ampel eben auf Grün gesprungen sei, Ekvtimishvili also weiterfahren könne. "Wenn man als Kind mit jemandem gespielt hat und 20 Jahre später sieht, welche Kluft zwischen den jeweiligen Lebens­realitäten liegt, ist das eine schmerzhafte Erkenntnis", sagt die Autorin.

Es schmerzt auch, von den Gewalterfahrungen der Internatsbewohner, zum Großteil Waisen oder von ihren Eltern dort abgegebene Kinder, zu lesen. Umso brutaler wirken diese Szenen, wenn man die Ausweglosigkeit bedenkt, der die Kinder in dieser Einrichtung ausgeliefert waren. Symbolisch hierfür steht das Birnenfeld, das dem Roman seinen Titel gibt und das sich bis heute auf dem Schulgelände befindet. Im Buch mutet seine Beschreibung mystisch an, der Humus dort ist moorartig feucht und dadurch auch gefährlich: Man kann als Kind darin versinken und sich in den verschlungenen Wurzeln verfangen. Die "knorrigen, warzenbedeckten Stämme", die steinharten Früchte mit wässrigem Geschmack stehen für die Verlassenheit der Bewohner: So wie sich jahrzehntelang niemand um das stehende Wasser auf dem Feld gekümmert hat, so hat sich in der Zeit nach dem Ende der Sowjetunion auch niemand um die Kinder gesorgt.

Diese sind Opfer und Täter zugleich, denn neben Piesackereien und Streitigkeiten gibt es auch Vergewaltigungen untereinander. Eine Gruppe von Jugendlichen bietet weibliche Neuankömmlinge dar; weint und schreit das Mädchen, wird ihm der Mund zugehalten. Ein Entrinnen gibt es nicht. Auch der ­Geschichtslehrer fängt die jungen Mädchen ab, führt sie in ein Klassenzimmer oder die Umkleidekabine. Die etwas Älteren ­lassen sich nicht selten von Geschenken und Versprechen ver­locken und prostituieren sich in der Plattenbauwüste nebenan. Die Direktorin des Internats weiß davon. Ihrer Meinung nach könne man den jugendlichen Mädchen aber nicht verbieten, rauszugehen. Außerdem wollten sie es doch selbst, oder etwa nicht? "Sie sind keine Kinder mehr, sie sind neugierig …" Schließlich ist es ein ehemaliges Waisenkind, inzwischen erwachsen, das den Kindern im Roman ein wenig Schutz und Hoffnung gibt.

"Das Birnenfeld" zeigt eine gnadenlose, konservative georgische Gesellschaft, die keinen Platz abseits der Norm bietet. Von der Erfahrung, dass Andersartigkeit bis zum heutigen Tag mit Diskriminierung begegnet wird, berichtet auch die Autorin Tamar Tandaschwili in einem Gespräch in ihrem Büro in Tiflis. Sie hat 2013 an einer Demonstration zum "Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie" in Tiflis teilgenommen. Die kleine Kundgebung wurde von mehr als 20.000 Gegen­demonstranten attackiert. Der trainierten Langstreckenläuferin Tandaschwili gelang es, den Steinwürfen und Gewalttätigkeiten unversehrt zu entkommen.

Nach diesem Ereignis sei der Leiter einer Organisation für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI) auf sie zugekommen und habe sie gebeten, für ein paar Monate als Psychotherapeutin für die Gruppe zu arbeiten. Es fehle an Therapeuten, die in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlecht unvoreingenommen seien. Die Psychologin war erst kurz zuvor nach fast drei Jahren Studium in den USA nach Georgien zurückgekehrt und eigentlich mit ihrer Dissertation beschäftigt. Dennoch nahm Tandaschwili das Angebot an – und arbeitet bis heute für die Organisation. Viele ihrer Patienten, nicht nur LGBTI-Personen, sondern auch viele Heterosexuelle, sind als Kinder psychisch oder sexuell misshandelt worden. "Dass Misshandlungen strukturell eine so große Rolle spielen, hat mich sehr wütend gemacht. Ich musste etwas finden, um mit diesem Ärger umzugehen. Doch das Etwas fand mich."

Tandaschwili begann zu schreiben, zuerst in Pausen und als Ablenkung während der Arbeit an ihrer Dissertation. Sie habe sich dafür täglich eine halbe Stunde Zeit nehmen wollen, doch drei Tage später immer noch an dem Manuskript gearbeitet. Nun hat es in "Löwenzahnwirbelsturm in Orange" seine Buchform gefunden.

Die im Roman beschriebenen und miteinander verwobenen Schicksale basieren auf Erfahrungen der 1973 geborenen Autorin aus ihrer Arbeit als Psychologin und Therapeutin. Tandaschwili verknüpft Unfälle, Selbstmord und Vergewaltigungen mit Poesie über Liebe, mit Träumen von Gleichberechtigung und alternativen Zukunftsvisionen. Wie kleine Inseln ragen die Szenen aus dem Meer des georgischen Patriarchats. Seit der Veröffentlichung des Buches kommen neue Patienten zu ihr, die sich von der Lektüre angesprochen fühlen.

Inzwischen arbeitet Tandaschwili an einem umfassenden Beratungs- und Fortbildungskonzept für verschiedene Alters­stufen und Bildungsschichten. Dafür gewinnen konnte sie eine der größten Bildungsorganisationen in der Kaukasusregion, das Center for Training and Consultancy, das unter anderem mit ­Regierungen, NGOs und Schulen zusammenarbeitet. Vor allem geht es um Prävention: In einem Modul werden etwa junge Mädchen darin geschult, wie sie sich vor psychischer und physischer Gewalt schützen können. Dazu gehören Aufklärung über Mobbing, Fake-Profile in sozialen Netzwerken, die Verbreitung von K.-o.-Tropfen in Clubs sowie Tipps zu Notfallnummern und Reservegeld in der Hosentasche.

Nana Ekvtimishvili: Das Birnenfeld. Aus dem Georgischen von Ekaterine Teti und Julia Dengg. Suhrkamp, Berlin 2018. 221 Seiten, 16,95 Euro.

Tamar Tandaschwili: Löwenzahnwirbelsturm in Orange. Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Residenz Verlag, Salzburg 2018. 136 Seiten, 18 Euro.

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