Amnesty Journal Frankreich 28. August 2019

Alles außer Mord

Ein Mann telefoniert am Handy, im Hintergrund improvisierte zelte.

Der Roman "All dies ist nie geschehen" spielt in dem nordfranzösischen Flüchtlingslager, das als "Dschungel von Calais" bekannt wurde. Ein harter Stoff, verarbeitet zu einem harten Krimi.

Von Maik Söhler

Mord und Totschlag kennen all jene, die sich in den Jahren 2015 und 2016 auf den Weg nach Calais machen. Es sind allesamt Flüchtlinge, darunter viele ­Afghanen, die vor dem Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen die Taliban und Al-Qaida fliehen, Sudanesen, die dem bewaffneten Konflikt im Südsudan zu entkommen versuchen, und Syrer, vertrieben aus einem Land, in dem die Armee Präsident Baschar al-Assads, diverse Milizen und die Terror­organisation Islamischer Staat um die Vorherrschaft kämpfen.

Noch mehr Mord und Totschlag aber finden sie im "Dschungel von Calais", zumindest wenn man Olivier Noreks "All dies ist nie geschehen" liest, den ersten Roman, der in dem ehemaligen französischen Lager spielt. Im "Dschungel von Calais" warteten im Sommer 2016 fast 10.000 Flüchtlinge in Zelten und Baracken darauf, sich auf einen Lastwagen, einen Zug oder eine Fähre nach Großbritannien zu schmuggeln. Im Oktober 2016 wurde das Lager schließlich geräumt.

Noreks Roman vermischt geschickt Realität und Fiktion rund um das Camp an der nordfranzösischen Küste. Realistisch gelingen dabei all jene Szenen, in denen unterschiedliche Polizeieinheiten sowie der französische Geheimdienst mit- und gegeneinander arbeiten, um Informationen aus dem "Dschungel" zu bekommen, islamistische Gefährder zu identifizieren oder eine Flucht nach Großbritannien zu unterbinden. Dieser Realismus ist kein Zufall, Norek hat selbst einige Jahre als Polizist gearbeitet. Unrealistisch dagegen ist das Mord-und-Totschlag-Szenario, das Norek innerhalb des "Dschungels" ansiedelt. Es hat zwar fast alle Arten von Kriminalität in jenem Zeltlager gegeben, eine Mordserie gehörte aber nicht dazu.

Dass aus "All dies ist nie geschehen" ein spannender Roman wird, liegt an der geradlinigen Art der literarischen Erzählung und an den Figuren: einem syrischen Polizisten, einem französischen Polizisten und einem unbegleiteten sudanesischen Jugendlichen, der nach England will. Norek setzt dabei die Folter in syrischen Gefängnissen in Szene, die gefährliche Flucht übers Mittelmeer, Vergewaltigungen minderjähriger Flüchtlinge, Krieg, Kindersoldaten, Depression. Mal erzählt ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der Kindersoldat im Südsudan war, von Gewaltritualen in Milizen: "An dem Tag bin ich sein Hund geworden und klebte nur noch an seinem Bein. Ich wurde gut behandelt. Ich bekam ausreichend zu essen, und musste diese Gefälligkeiten nicht mit Sex begleichen." Mal sagt ein Polizist über Flüchtlinge: "Wir nennen sie Zombies, um sie zu entmenschlichen. Weil unser einziger Auftrag darin besteht, auf Männer, Frauen und Kinder zu schießen, die wir normalerweise beschützen würden." Es ist viel Stoff, den der Autor verarbeitet, vor allem aber ist es viel harter Stoff.

Olivier Norek: All dies ist nie geschehen. Aus dem Französischen von Alexandra Hölscher. Blessing, München 2019. 368 Seiten, 18 Euro.

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