Amnesty Journal Griechenland 26. Juni 2023

"Das Signal ist: Bleibt fort"

Menschen nachts an einem Flussufer mit einem Schlauchboot.

Wenn Geflüchtete an den EU-Grenzen ankommen, müssen sie die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Dieses Recht wird aber in Tausenden Fällen verletzt. Der Jurist Robert Nestler von der Menschenrechtsorganisation Equal Rights Beyond Borders ist Rechtsbeistand direkt an der griechisch-türkischen Grenze und spricht über die Abschreckungspolitik der EU.

Interview: Herta Cless

Dieses Gespräch wurde lange vor der Schiffshavarie in griechischen Gewässern geführt, bei der im Juni wahrscheinlich Hunderte Flüchtende zu Tode kamen.

Was erwartet Geflüchtete zurzeit an den EU-Außengrenzen?

Das ist unterschiedlich. Doch im Moment scheinen sich Griechenland und die EU hauptsächlich der brutalen Abschreckung zu bedienen. Das Signal ist: Bleibt fort. Das heißt, man hält sich nicht mehr an geltende Gesetze. Wir stecken in einer Rechtsstaatskrise.

Wie genau äußert sich das am Beispiel der griechischen Grenzen?

Die Zahl der Pushbacks hat in den vergangenen drei Jahren extrem zugenommen. An der Landgrenze und auf dem Meer. Es gibt eindeutige Berichte, dass Schlauchboote in türkische Gewässer zurückgeschleppt und dort zum Teil ohne Motor abgesetzt wurden. Die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex ist da­ran beteiligt. Viele Menschen, die es nach Griechenland schaffen, werden ins Gefängnis gesteckt. Vor allem, wenn sie aufgrund ihrer Herkunft eine geringe Chance auf Asylanerkennung haben. Darunter sind auch besonders Schutzbedürftige wie Minderjährige. Außerdem gibt es zahlreiche Berichte von Menschen, die entführt, geschlagen und gefoltert wurden. Viele Geflüchtete erhalten gar keinen Zugang zum Asylsystem, oder das Antragsverfahren wird nicht korrekt eingehalten oder durchgeführt.

Können Sie Beispiele nennen, wie Behörden dabei vorgehen?

Vielen wird die Möglichkeit eines Asylantrags einfach verwehrt, oder das Verfahren wird so angelegt, dass im Ergebnis mit fast hundertprozentiger Sicherheit eine Rückführung in die Türkei steht. Dahinter steckt der Druck der EU wegen des Türkei-Deals. Auf den Inseln sind zudem zu wenige Ärzt*innen, auf Kos gibt es gar keine. Das heißt, eine Gefährdungsbeurteilung wegen Krankheiten vor Prüfung des Asylantrags wird nicht durchgeführt, obwohl sie gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Verfahren an der Grenze werden zudem stark beschleunigt. Es bleibt also keine Zeit, einen Rechtsbeistand hinzuzuholen, obwohl das ebenfalls gesetzlich erforderlich ist. So wird oft innerhalb einer Stunde entschieden, ob jemand bleiben darf oder nicht. Viele Ablehnungen entbehren jeder Rechtsgrundlage. Die Einspruchsfristen wurden auch stark verkürzt. Abgelehnte Asylbewerber*innen werden insbesondere auf Kos für sechs bis 18 Monate inhaftiert.

Woher stammen Ihre Informationen?

Das sind Informationen aus erster Hand. Wenn möglich, werden wir bei Unregelmäßigkeiten kontaktiert, um Betroffenen rechtlich zur Seite zu stehen. Wir bekommen Anrufe aus Gefängnissen, zusammen mit digitalen Standortangaben. Einige unserer Klient*innen haben körperliche Anzeichen von Misshandlungen. Zu Pushbacks auf dem Meer gibt es diverse Beweisdokumentationen von Geflüchteten und NGOs. Vieles findet im Dunklen statt. Auf See lassen sich Ereignisse oft nicht überprüfen, auch die Grenzregion auf dem Festland ist abgeschieden. Journalist*innen und vielen NGOs ist der Zutritt zu den Flüchtlingscamps nicht mehr gestattet. Im Gegenteil, die Strafverfolgung und Gängelung von Medienvertreter*innen und humanitären Organisationen hat in den vergangenen drei Jahren rasant zugenommen. So werden Kontroll­instanzen ausgehebelt, Flüchtende sind Misshandlungen schutzlos ausgeliefert.

Geflüchtete werden beim Versuch eines Grenzübertritts von kroatischen Beamt*innen schwer misshandelt. So kommen mehr und mehr Menschen nach Griechenland und können weder vor noch zurück.

Welche Rolle spielt der griechisch-türkische Grenzkonflikt?

Er verschärft die Situation. Immer wieder stecken dadurch Menschen im unübersichtlichen Grenzgebiet des Flusses Evros fest. Die EU benutzt Griechenland zudem als Schild. Laut dem EU-Türkei-Deal sollten Flüchtende, die unrechtmäßig nach Griechenland einreisen, in die Türkei zurückgebracht werden – sie sei ein "sicherer Drittstaat". Doch der Deal funktioniert nicht, hat nie funktioniert, denn die Türkei ist nicht sicher. Die Menschen sitzen letztlich in Griechenland oder im Grenzbereich fest. Während des Asylverfahrens oder nach Ablehnung des Antrags dürfen sie nicht weiterreisen. Und selbst wenn: Die Balkanroute ist ebenfalls dicht. Geflüchtete werden beim Versuch eines Grenzübertritts von kroatischen Beamt*innen schwer misshandelt. So kommen mehr und mehr Menschen nach Griechenland und können weder vor noch zurück.

Viele Geflüchtete werden in Camps untergebracht. Wie ist die Situation dort?

Wer in einem Camp unterkommt, trifft es zwar etwas besser. Aber auf den Inseln dürfen die Menschen die Anlage nur in Ausnahmefällen verlassen, und die Unterkünfte sind schlimmer als mangelhaft. Die Camps in Stadtnähe auf dem Festland wurden abgebaut, um neue Camps weit außerhalb zu errichten. Flüchtende sollen aus der Gesellschaft verschwinden. Deshalb hat die griechische Regierung auch die ESTIA-Programme gestrichen, die dazu dienten, Geflüchteten mit EU-Geld Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Familien, die sich bereits eingerichtet hatten, wurden auf die Straße gesetzt und sollten in die abseits liegenden Camps umziehen. Dadurch haben Leute ihre Arbeit oder ihren Ausbildungsplatz verloren und mussten ihre Kinder aus der Schule nehmen.

Was wird nun aus diesen Familien?

Viele Menschen tauchen unter und versuchen, irgendwie in den Norden zu gelangen. Anderen bleibt als Wohnoption nur ein Camp mit unzumutbaren Lebensbedingungen oder ein Leben auf der Straße. Wer keine gültigen Papiere hat, landet auf der Straße und rutscht eventuell in ausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits vor Jahren festgestellt, dass Griechenland nichts gegen den Menschenhandel unternimmt. Aber auch wer Asyl erhält, bekommt keine Hilfe mehr, sondern muss sehen, wie er oder sie zurechtkommt. Selbst die einheimische Bevölkerung erhält nur in Notfällen eine minimale, unzureichende staatliche Unterstützung. Es hat sich eine unglaubliche Hilflosigkeit breit gemacht.

Robert Nestler ist Geschäftsführer und Mitbegründer von Equal Rights, er hat Rechtswissenschaften, ­Soziologie und Islam­wissenschaften in Halle an der ­Saale studiert.

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