Amnesty Journal Deutschland 19. August 2022

"Ein Trauma, das bis in die Gegenwart reicht"

Zwei Männer, einer von ihnen in Motorradlederkleidung, einer in einem T-Shirt mit einem Adler-Emblem, reden energisch auf zwei Polizisten ein, die Helme mit Visier

Vor 30 Jahren griffen Neonazis ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen an – unter dem Beifall Tausender. Die Polizei griff nur zögerlich ein. Die Perspektive der Betroffenen wird bis heute weitgehend ignoriert.

Von Heike Kleffner

Der rassistische Gewaltexzess von Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992 vor 30 Jahren markiert eine politische Zäsur – und den Beginn eines rassistischen Flächenbrands in Ost- und Westdeutschland. Für die vietdeutsche Community sind das Pogrom und die Straflosigkeit für die allermeisten Tatbeteiligten "ein Trauma, das bis in die Gegenwart reicht", sagt die Journalistin Nhi Le.

Zwischen dem 22. und 25. August 1992 griffen mehrere hundert organisierte Neonazis, Naziskins und rassistische Gelegenheitstäter*innen unter dem Beifall von bis zu 3.000 Zuschauer*innen das "Sonnenblumenhaus" im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen an. In dem Gebäude befanden sich ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen sowie die Räume der "Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber" (ZASt). Letztere wurden unter Polizeischutz geräumt, Hunderte Geflüchtete – darunter viele schutzsuchende Rom*nja aus den ex-jugoslawischen Bürgerkriegsstaaten und Osteuropa – im Umland verteilt. "Schon im März 1992 war bei einem Überfall von 25 Neonaziskinheads in Saal in der Nähe von Rostock der 18-jährige Rom Dragomir Christinel in einer Flüchtlingsunterkunft tödlich verletzt worden", ruft der Theater- und Medienpädagoge Hamze Bytyci in Erinnerung.

Brandsätze auf Frauen, Männer, Kinder

Bereits wochenlang hatten Neonazis, Lokalmedien und Anwohner*innen gegen die überfüllte Aufnahmestelle öffentlich mobilisiert, die Polizeieinheiten vor Ort agierten zögerlich und zogen sich in der Nacht vom 24. August 1992 auf Anweisung ihrer Vorgesetzten zeitweise völlig von dem belagerten Wohnheim zurück: In der Folge konnten Neonaziskins ungehindert Steine und Brandsätze durch die dünnen Fensterscheiben des Plattenbaus werfen. Rund 120 Frauen, Männer und Kinder – überwiegend ehemalige DDR-Vertragsarbeitnehmer*innen aus Vietnam sowie eine kleine Gruppe antifaschistischer Unterstützer*innen, der Rostocker Integrationsbeauftragte, Wachschutzbeschäftigte und ein ZDF-Fernsehteam – waren in dem brennenden Gebäude eingeschlossen; Naziskins und ihre Sympathisant*innen hinderten die Feuerwehrleute am Löschen. Die Eingeschlossenen konnten sich später auf das Dach des Gebäudes retten.

Rostock-Lichtenhagen – eine Chronologie

Sonnabend, 22. August 1992

Immer mehr Menschen ziehen am Nachmittag vor die "Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber" (ZASt) im so genannten Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, bald fliegen die ersten Steine. Ziel sind auch Wohnungen der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen, die sich ebenfalls in dem Gebäude befinden. Die zuerst 35 anwesenden Polizeibeamten halten sich zurück, die Polizei sei "zunächst von einem Bürgerprotest ausgegangen, dem man nicht mit Helm und Schild begegnen" dürfe, sagt ein Sprecher. Die Angreifer versuchen in das Haus einzudringen, scheitern jedoch vorerst.

Im Verlauf des Abends wächst die Zahl der Angreifer auf rund 300 Naziskins. Rund tausend Zuschauer*innen begleiten jeden Steinwurf mit Parolen und Klatschen. Auch die mittlerweile um einen Bereitschaftszug verstärkte Polizei wird massiv angegriffen, Polizeiautos gehen in Flammen auf. Polizisten geben Warnschüsse ab. Erst gegen zwei Uhr nachts treffen Wasserwerfer aus Schwerin ein – sie hatten über vier Stunden für eine Entfernung von weniger als 100 Kilometern gebraucht. Die Angreifer hören den Polizeifunk ab. Um fünf Uhr morgens enden die Auseinandersetzungen.

Sonntag, 23. August 1992

Erneut dringen Angreifer kurzzeitig in das Sonnenblumenhaus ein. Die Bewohner*innen müssen sich in die oberen Stockwerke zurückziehen. Polizeibeamte versuchen kurzfristig, eine schützende Kette um das Haus zu ziehen; agieren aber sichtbar ohne Konzept und haben die Situation nicht unter Kontrolle. Jeder Flaschenwurf steigert die Volkfeststimmung unter den Zuschauer*innen. Im Verlauf des späten Abends greifen bis zu 500 Naziskins, die zum Teil aus ganz Norddeutschland angereist sind, immer wieder mit Steinen, Knallkörpern und Brandflaschen das Gebäude an. Erst um 22 Uhr lösen die Polizeiführung und das Innenministerium einen landesweiten Alarm aus.

In den frühen Morgenstunden treffen mehrere Polizeihundertschaften aus Hamburg vor dem Sonnenblumenhaus ein; nun gelingt es, die Angreifer abzudrängen. Als rund 150 antifaschistische und antirassistische Aktivist*innen aus Berlin und Hamburg gegen 1.30 Uhr morgens für eine Solidaritätsdemonstration vor dem Sonnenblumenhaus zusammenkommen, ziehen sich die letzten Neonazis vom Vorplatz zurück. Mehr als 60 Antifaschist*innen werden von der Bereitschaftspolizei vor Ort verhaftet und in die Gefangenensammelstelle der Rostocker Wasserschutzpolizei gebracht.

Montag, 24. August 1992

Die Schüler*innen im Stadtteil Rostock-Lichtenhagen erhalten ab zehn Uhr unterrichtsfrei. Viele von ihnen ziehen direkt zum Sonnenblumenhaus. Dort werden gegen Mittag die Räume der ZASt unter Polizeischutz geräumt; die Asylsuchenden werden in kleinere Unterkünfte im Umland von Rostock verteilt. Die vietnamesischen Bewohner*innen des Sonnenblumenhauses bleiben zurück. Gemeinsam mit Unterstützer*innen informieren sie die Polizei über die anhaltende Bedrohung und ihren Schutzbedarf.

Nachmittags kommen in der Polizeidirektion Rostock unter anderem der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU), Landesinnenminister Lothar Kupfer sowie der Rostocker Polizeidirektor Siegfried Kordus zusammen. Obwohl andere Bundesländer Polizeiunterstützung anbieten, verzichten das Land und die Polizeidirektion Rostock auf zusätzliche Kräfte. Gegen 20 Uhr werden die Beamten in der Nähe des Sonnenblumenhauses an einer Kreuzung von mehreren Seiten angegriffen; gleichzeitig verlassen die zwei Hamburger Polizeihundertschaften den Einsatzort und kehren nach Hamburg zurück. Gegen 21 Uhr werden die vor dem Sonnenblumenhaus verbliebenen Polizisten faktisch von rund 500 Neonazis und der aufgeheizten Menge eingekesselt. Als sich gegen 21.30 Uhr die letzten Polizisten zurückgezogen haben, werfen Neonazis die ersten Brandsätze in die unteren Etagen des Sonnenblumenhauses. Für alle – die Polizei, Feuerwehr, Medien, Zuschauer*innen und Angreifer*innen – ist aufgrund der hell erleuchteten Fenster sichtbar, dass sich in den Wohnungen Menschen aufhalten. Aus Angst vor den Angreifern geben Feuerwehrleute wenig später auf: Sie hatten zu Fuß und mit Handfeuerlöschern im Hintereingang die ersten Brände gelöscht – weil sie keinen Polizeischutz für ihre Löschfahrzeuge erhielten. Als die ersten Angreifer ins Haus eindringen, gelingt es vietnamesischen Bewohner*innen zunächst, diese wieder zu vertreiben. Doch dann wird sowohl der Aufgang zum Wohnheim als auch der Aufgang der ZASt in Brand gesetzt.

Immer wieder begleiten die Parolen "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus", "Sieg Heil" und "Zugabe" die Brandflaschenwürfe. Jedes Mal, wenn eine Gardine Feuer fängt und die Flammen das Innere einer Wohnung erfassen, brandet Beifall in der bis zu 3.000 Menschen umfassenden Menge auf. Im Haus können die rund 120 Eingeschlossenen – vietnamesische Kinder, Frauen und Männer, ein Team des ZDF, der Rostocker Ausländerbeauftragte sowie Wachschutzbeschäftigte – kaum noch atmen, weil der Qualm so dicht ist. In letzter Minute gelingt es ihnen, eine Tür zum Flachdach aufzustemmen und sich zu retten. Erst als die Polizei um 22.50 Uhr wieder vorrückt, kann die Feuerwehr ihren Einsatz beginnen.

Verzweifelte Anruf*innen kommen bei der Einsatzzentrale der Polizei in Rostock während dieser Zeit nicht durch. Der Rostocker Polizeichef Siegfried Kordus und Innenminister Lothar Kupfer hatten sich ab 20.10 Uhr zum "zum Hemdwechseln" nach Hause zurückgezogen; Kordus-Stellvertreter Jürgen Deckert war ab 19.35 Uhr "nicht mehr erreichbar".

Staatsversagen und Widerstand

Bereits im September 1991 hatte ein rassistischer Mob aus Anwohner*innen und Neonazis im sächsischen Hoyerswerda gewaltsam die Vertreibung aller Flüchtlinge und Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik, Angola und Vietnam durchgesetzt. Die Zahl rechtsradikaler Straftaten stieg in den Jahren 1991 und 1992 daraufhin rapide an.

Die Perspektive der Angegriffenen müsse endlich in den Mittelpunkt gerückt werden, fordert Bytyci. Bis heute werde allzu oft vergessen, dass sich die Betroffenen vielerorts auch zur Wehr gesetzt hätten – sowohl gegen die rassistische Gewalt als auch gegen Abschiebungen und Zwangsverteilungen. Der Regisseur Dan Thy Nguyen, der die Erfahrungen der Überlebenden für sein Theaterstück "Das Sonnenblumenhaus" dokumentierte, stellte fest: "Der Mut der Überlebenden, die ihr eigenes Leben riskierten, wird in der Geschichte von Rostock-Lichtenhagen oft ausgeblendet."

Dokumentation "The truth lies in Rostock", 1993

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Die Ereignisse in Hoyerswerda, insbesondere aber in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 offenbarten ein Staatsversagen, dessen Folgen schon bald drastisch deutlich wurden: In den folgenden Wochen und Monaten gab es kaum ein Wochenende, an dem nicht irgendwo in Ost- und Westdeutschland Flüchtlingsunterkünfte sowie Wohnhäuser, Treffpunkte und Geschäfte von Migrant*innen zur Zielscheibe von Brandanschlägen und Angriffen wurden. In Mölln starben im November 1992 Ayşe Yılmaz, Yeliz und Bahide Arslan bei einem rassistischen Brandanschlag durch Neonazis.

Aufarbeitung bis heute lückenhaft

Politiker- und Medienkampagnen gegen Asylsuchende mündeten in die faktische Abschaffung von Artikel 16 Grundgesetz im Mai 1993. Dass auf schwerste Gewalttaten Straflosigkeit, Beifall und staatliche Verharmlosung folgten, prägte die "Generation Hoyerswerda" – das rechtsterroristische Netzwerk NSU, den Neonazi-Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den Angreifer auf die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker. Eine Aufarbeitung kam nur langsam voran und ist zum Teil bis heute lückenhaft – so dauerte es zehn Jahre, bis auch die letzten Angeklagten von Rostock-Lichtenhagen sich vor Gericht verantworten mussten.

Das Staatsversagen führte letztlich dazu, dass sich die breiten extrem rechten Bewegungen entwickeln konnten, die wir heute erleben – mit einem Wähler*innenpotenzial von 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung in Ostdeutschland und täglich mindestens zwei bis drei rechten, rassistischen und antisemitischen Gewalttaten.

Transparenzhinweis: Heike Kleffner ist Journalistin und Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. (VBRG e. V.).

Hier geht es zu den Forderungen von Amnesty zu rassismussensibler Polizeiarbeit.

Weitere Informationen & Termine

Bundesweite Demonstration am 27. August 2022, 14 Uhr, Rostock-Lichtenhagen
Dan Thi Nguyen: Das Sonnenblumenhaus, Theaterstück und Hörspiel, 2017
Der Anschlag in Rostock-Lichtenhagen | Die Narbe | NDR Doku

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