Amnesty Journal Deutschland 19. Juni 2023

Flucht und Protest

Zwei Männer stehen sich gegenüber, getrennt durch einen Gitterzaun, sie greifen hindurch, um sich zu berühren; einer von den beiden weint.

So viele Menschen wie ­selten zuvor sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Verfolgung. Wer flieht, braucht Schutz – ohne Wenn und Aber. Kolumne von Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

von Markus N. Beeko

Zu den mir oft gestellten Fragen gehört: "Wie hält man es als Menschenrechts­aktivist aus, sich täglich mit Grauen und Folter zu befassen?" Die Antwort ist einfach: Tut man nicht. Man wird aktiv, weil man es nicht aushält. Weil es nicht auszuhalten ist.

Es ist nicht auszuhalten, auch nach Monaten noch die russischen Kriegsverbrechen mitanzusehen, die Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser und die Wasserversorgung, und den Menschen in der Ukraine weiter zuzuhören, wenn sie von Menschenrechtsverletzungen berichten.

Es ist nicht auszuhalten, syrischen Geflüchteten zuzuhören, die bangen, wie ihre Familien in Sicherheit gelangen. Und zu sehen, wie der syrische Machthaber Bashar al-Assad – nachdem er mit russischer Unterstützung Kriegsverbrechen verübt, Hundertausende inhaftiert und gefoltert sowie Zehntausende hingerichtet hat – nun wieder international willkommen geheißen wird.

Es ist nicht auszuhalten, dass die Taliban in Afghanistan Frauen und Mädchen jegliche Selbstbestimmung und Menschenwürde zu entziehen versuchen – und die Bundesregierung gleichzeitig das Aufnahmeprogramm für afghanische Menschenrechtler*innen und besonders gefährdete Frauen weiter aussetzt.

Es ist nicht auszuhalten, über das Mittelmeer zu schauen und die schutzlosen Menschen zu hören, die in Äthiopien, dem Sudan, in der Demokratischen Republik Kongo oder im Sahel Gewalt und Verfolgung ausgesetzt sind, ob durch islamistische Terroristen oder russische Wagner-Söldner. Es ist auch nicht auszuhalten, dass Frauen, Männer und Kinder im Mittelmeer ertrinken oder von libyschen, von der EU unterstützten Milizen verschleppt werden.

Ich denke, es ist an der Zeit, in Deutschland für den Flüchtlingsschutz auf die Straße zu gehen.

Das Bild zeigt das Porträtbild eine Mannes

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland

Es ist nicht auszuhalten, hinzuschauen und zuzuhören. Und man wundert sich, wie es anderen gelingt, dies alles auszuhalten. "Wir müssen diese Bilder aushalten", sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer angesichts frierender und hungernder Frauen und Kinder an der polnischen Grenze.

Und sein Parteikollege Jens Spahn sagte: "Vielleicht müssen wir tatsächlich mal darüber nachdenken, ob die Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention so noch funktionieren." Wie er das mit dem Grundgesetz (auf das er einst als Minister geschworen hat) oder mit seinem christlichen Selbstverständnis vereinbart? Ein biblisches Wunder.

Nun, die Bibel ist fast 2000 Jahre alt – da vergisst vielleicht mancher. Offenbar gehören für einige schon jetzt die Beschwörungen von Politiker*innen zur ­Verteidigung "unserer westlichen Werte" und der Solidarität mit den Millionen aus der Ukraine fliehenden Menschen angesichts des russischen Angriffskrieges zur verdrängten Geschichte.

Es ist aber nicht auszuhalten, zu erinnern und nicht zu vergessen.

Beispielsweise, dass die Genfer Flüchtlingskonvention auf die schrecklichen ­Erfahrungen der vielfach verweigerte Aufnahme verfolgter Jüdinnen und Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs und den massenhaften Fluchtbewegungen in Europa folgte.

Heute sind so viele Menschen wie ­selten zuvor auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Verfolgung. Wer flieht, braucht Schutz – ohne Wenn und Aber. Stattdessen will die EU mit Zustimmung Deutschlands grundlegende menschenrechtliche Verpflichtungen im Flüchtlingsschutz aufgeben. Die Bundesregierung verrät damit ihren Verfassungsauftrag und ihre eigenen, im Koalitionsvertrag verankerten Bekenntnisse zu geltenden Menschenrechtsnormen.

Ich spreche in diesen Tagen mit vielen, denen es schwerfällt, dies alles aus­zuhalten.

Der aktuelle Amnesty-Jahresbericht dokumentiert neben Flucht eine weitere Entwicklung: Protest. Millionen Menschen demonstrieren weltweit gegen Gewalt und Unterdrückung, ob im Iran, in Peru oder in Georgien. Ich denke, es ist an der Zeit, in Deutschland für den Flüchtlingsschutz auf die Straße zu gehen.

Markus N. Beeko ist General­sekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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