Amnesty Journal 10. Februar 2023

Srebrenica überlebt

Ein mittelalter Mann in Jeans und Daunenkurzjacke steht in einer Halle, in der ein LKW mit der Aufschrift "UN" steht, seine Haare fallen ihm ins Gesicht.

Wie ein Schleier legt sich der Schmerz über den Verlust von Verwandten und Freunden auf seine Erinnerungen. Und doch kann Hasan Hasanović über den Völkermord von 1995 in Bosnien-Herzegowina eindrucksvoll erzählen.

Von Till Schmidt

Die weißen Stelen vermehren sich langsam auf dem Friedhof. Etwa 7.000 sind es derzeit, und immer wieder kommen neue hinzu. Der Ort, an dem sie stehen, heißt Potočari, nur wenige Kilometer entfernt von Srebrenica, im Osten von Bosnien-Herzegowina – ein blutgetränkter Landstrich.

1995 ermordeten dort die serbisch-bosnische Armee und serbische Milizionäre binnen weniger Tage 8.000 bosniakische Jungen und Männer – vor den Augen der UN-Blauhelme, die in und um Srebrenica "Schutzzonen" eingerichtet hatten, das Massaker jedoch nicht ver­hinderten und ahnten, was geschah. Der Genozid gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

"Todesmarsch von Srebrenica"

Hasan Hasanović stammt aus einem nahegelegenen Dorf und überlebte den Völkermord als 19-Jähriger. Er war Teil einer Kolonne, die nach der Eroberung Srebrenicas aufbrach, um zu entkommen. Sechs Tage lang war er unterwegs und legte 120 Kilometer durch serbisch kontrolliertes Gebiet zurück. Die meisten der etwa 15.000 Flüchtenden wurden auf diesem "Todesmarsch von Srebrenica" ermordet.

Seine Geschichte erzählt Hasan Hasa­nović in "Srebrenica überleben", einem Buch, das 2016 auf Englisch erschien und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Bericht ist in einem knappen, mitunter fast protokollarischen Stil verfasst und vermeidet jedes Pathos – "Srebrenica überleben" ist ein bescheidenes Buch.

Zwar steht das eigene Erleben des ­Autors im Zentrum der chronologischen Schilderung, doch ist zu spüren, wie er damit ringt, anderen Überlebenden und den Ermordeten ebenfalls Raum zu geben.

Der Schmerz über den Verlust von Verwandten, Freunden und ihm unbekannten Menschen liegt wie ein Schleier auf den Erinnerungen. Gerade als Abwesende sind sie immer wieder anwesend.

Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen

Hasan Hasanović wuchs in dem Dorf Sulice in einfachen Verhältnissen auf, bevor seine Familie nach Bratunac zog und dort ein Haus baute. Damals bemerkte er, dass die Polarisierung zwischen Bos­ni­ak*in­nen und Serb*innen zunahm – im politischen, aber auch im alltäglichen Leben. So besuchte man zum Beispiel getrennte Bars und Cafés. Es war "nur noch eine Frage der Zeit, bis der Krieg ausbrechen würde", schreibt Hasanović im Rückblick.

Kurz nach Beginn des Kriegs flüchtete Hasanovićs Familie aus Bratunac. Teils gemeinsam, teils getrennt, schlugen sie sich durch die Wälder der Region, während in der Ferne die Geräusche des Krieges zu hören waren. Immer wieder erhielten sie Informationen über ermordete Verwandte und Freunde sowie über die Zerstörung von Dörfern, die sie kannten. Von 1992 bis 1995 lebten die Hasanovićs in Srebrenica, wohin immer mehr Bosniak*innen geflüchtet waren.

Regelmäßig bombardierte das serbische Militär die Stadt, in der Nahrungsmittel und Hygieneartikel immer knapper wurden. "Jeder versuchte einfach nur, den Krieg irgendwie zu überleben", erinnert sich Hasanović. Trotz gelegentlicher Lebensmittellieferungen "sprach man nur über den Hunger. Wir alle waren abgemagert und bleich."

Überall Erinnerungen

Auch nach Beginn der "UN-Schutzmaßnahmen" war das Alltagsleben voller Entbehrungen. Abwechslung boten die Fußballweltmeisterschaft, Musik, aber auch Angebote religiöser Gemeinschaften. So besuchte Hasanović einen Arabisch-Kurs, um den Koran in der Originalsprache lesen zu können. Eine solidarische Leidensgemeinschaft seien die Eingeschlossenen allerdings nicht gewesen. Im improvisierten Kino musste der Eintritt mit Zigaretten bezahlt werden, und die waren rar. Auch die Hasanovićs sahen sich gezwungen, andere Hungernde an ihrer Haustür abzuweisen.

Nach dem widerstandslosen Fall Srebrenicas im Juli 1995 suchten die Mutter und der jüngere Bruder des Autors Schutz bei einem niederländischen UN-Bataillon in Potočari, während er selbst, sein Zwillingsbruder Husein, sein Vater Aziz und sein Onkel Hasan sich einer Kolonne anschlossen, um aus der Stadt zu gelangen. Den Fußmarsch beschreibt Hasanović als einen surrealen, tranceartigen Zustand: "Jeden Tag frage ich mich aufs Neue, woher ich damals die Kraft nahm", erinnert er sich.

Ich wollte warten und nach ihnen suchen, aber ich wusste, dass ich getötet würde, wenn ich stehen bleibe – und so rannte ich einfach weiter.

Hasan
Hasanović
Autor

Irgendwann bemerkte der 19-Jährige, dass er den Kontakt zu seinen drei Familienangehörigen verloren hatte: "Ich wollte warten und nach ihnen suchen, aber ich wusste, dass ich getötet würde, wenn ich stehen bleibe – und so rannte ich einfach weiter." Er schlug sich allein durch, versteckte sich unter dem dröhnenden Lärm der Artillerie in Wäldern und in einem Fluss.

"Bis heute weiß ich nicht, was genau mit meinem Vater, meinem Zwillingsbruder und meinem Onkel passiert ist – wie und wo sie ermordet wurden", berichtet Hasanović. Dieser Gedanke quäle ihn seither und hole ihn immer wieder ein, wenn er durch Srebrenica spaziere. Viele Gebäude, Straßen, ja selbst Bäume lösten Erinnerungen aus.

Hasanović beschreibt auch, wie schwer es ihm jahrelang fiel, über das Geschehene und seine Gedanken zu sprechen. "Die meisten Überlebenden sind sehr arm und haben nie psychologische Unterstützung erhalten", erzählt er. Auch gebe es keine Selbsthilfeorganisationen. Sein Buch zu schreiben, fiel ihm nicht leicht: "Ich erinnere mich lebhaft, wie ich nach wenigen Seiten immer wieder pausieren musste."

Till Schmidt ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben. Mit einem Vorwort von Keno Verseck. Aus dem ­Englischen übersetzt von Filip ­Radunović. Wallstein, Göttingen 2022, 104 Seiten, 16 Euro.

ZUR PERSON

Hasan Hasanović

Geboren 1975, Überlebender des Völkermords von Srebrenica, bei dem er seinen Vater, seinen Bruder und seinen Onkel verlor. Nach dem Krieg absolvierte er ein Studium der Kriminalwissenschaften in Sarajevo. Eine Promotion zum Thema internationale Strafgerichtsbarkeit soll ab 2023 folgen. Heute ist Hasanović Kurator der Völkermord-Gedenkstätte Potočari und leitet dort ein Oral-History-Projekt. ­Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in ­Srebrenica.

Seit 2009 arbeitet Hasanović im Srebrenica Genocide Memorial in Potočari. Zusammen mit einem Kollegen führt er Video-Interviews mit Überlebenden, um diese mithilfe der Shoah Foundation zu archivieren. In gewisser Hinsicht ist auch sein eigenes Buch ein Beitrag dazu.

Weitere Artikel