Amnesty Journal Australien 15. Mai 2023

Ohne Land gibt es kein Leben

Eine Musikerin steht auf einer Bühne, sie spielt Gitarre und singt in ein Mikro, reißt dabei den Mund weit auf, hinter ihr ein Schlagzeuger an seinem Instrument und Verstärker.

Jen Cloher, geboren 1973 in Adelaide, ist eine der wichtigsten Figuren der australischen Independent-Musik-Szene und bekannt für ihren offen queeren Lebensstil.

Interview: Thomas Winkler

Auf Ihrem neuen Album gibt es ein Lied, das "Protest Song" heißt. Können Lieder Veränderung bewirken?

Ich glaube an die politische Kraft von ­Musik, sonst könnte ich auch Lieder über gebrochene Herzen schreiben. Ein Protestsong kann meiner Ansicht nach vor allem eins leisten: Er kann Menschen das Gefühl geben, nicht allein, sondern mit anderen verbunden zu sein. Das ist wichtig. Ob Musik heute allerdings noch die Macht hat, Revolutionen auszulösen – da bin ich mir nicht sicher.

Hatte Musik denn jemals diese Macht?

Wir blicken gerne zurück in die Sechziger, als John Lennon und Yoko Ono gesellschaftlichen Wandel erreicht haben mit Musik, die Lennon schließlich das Leben gekostet hat. Wahrscheinlich hat Musik eine ähnliche Wirkung wie eine Demonstration. Man verändert die Welt nicht allein dadurch, dass man zu einer Demo geht – und so verändert auch kein Song allein die Welt. Aber man geht dennoch zu einer Demo, denn man fühlt dort Solidarität, eine Gemeinschaft, eine Macht, die man allein nicht hat – und das kann auch ein Song leisten. Das ist eine große Macht, wenn man sich ansieht, welche Angst vor allem rechtsgerichtete Regierungen vor der Kunst haben. Das erste, was diese Regierungen tun, wenn sie an die Macht kommen: Sie kürzen die Subventionen für Kultur. Denn wir Künst­ler*in­nen haben eine Stimme – und die Menschen hören uns zu.

Hat Popmusik in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, das Verständnis für queere Lebensentwürfe voranzubringen? Inzwischen scheint fast jede*r Popmusiker*in queer zu sein …

Ist das nicht großartig? Noch vor 20 Jahren gab es keine Popkünstler*innen, die offen queer waren. Pop ist nur ein Teil einer großen, weltweiten Bewegung, die mittlerweile viel erreicht hat. Trotzdem müssen wir uns immer vor Augen halten: Nur in bestimmten Ländern ist es möglich, als offen queere Künstler*in zu leben, in anderen ist es weiterhin lebensgefährlich. Wo man lebt, welche Hautfarbe oder Religion man hat, ob man arm oder reich ist – es hängt immer noch an vielen Dingen, ob man es sich erlauben kann, queer zu sein.

Auch wenn Sie die politische Macht von Musik anzweifeln: Ist Ihr Album vor allem ein politisches Statement?

Ich würde sagen, ich mache generell Musik, die keine Angst hat, eine politische Haltung einzunehmen. Heutzutage wird Musik vor allem allein mit Kopfhörern gehört, Musikhören ist eine sehr individuelle und intime Angelegenheit geworden. Und es ist ein großes Privileg, wenn dir jemand zuhört. Das ist eine große Verantwortung, da will man den Leuten etwas zum Nachdenken geben. Also schrieb ich einen Song wie "Being Human", in dem es um die Selbstbehauptung und Selbstbestimmung von Indigenen geht.

Wie kamen Sie auf das Thema?

Ich bin im Süden des Landes, das wir Australien nennen, geboren und aufgewachsen. Aber das ist kolonisiertes Land. Meine mütterliche Linie leitet sich von den Maori her – auch Neuseeland ist ein kolonisiertes Land. Hier wie dort wurden Menschen ihres Landes, ihrer Sprache, ­ihrer Kultur, ihrer Identität beraubt. Ich bin überzeugt, dass der Kolonialismus verantwortlich ist für viele Probleme, die wir heute haben wie den Klimawandel, das Artensterben und andere Folgen des Kapitalismus. Wenn man den Menschen, die sich nicht als Besitzer*innen, sondern als Hüter*innen des Landes und des Wassers verstehen, Land und Wasser wegnimmt, dann leiden Land, Wasser und Himmel. Und am Ende des Artensterbens wird auch der Mensch aussterben. Wenn also mein Album eine politische Aussage hat, dann eine sehr simple: Wir können uns nicht getrennt von Land, Wasser und Himmel verstehen – denn da kommen wir her.

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Was können wir von Indigenen ­lernen?

Was unsere Aufgabe ist: Dass wir nicht auf diesem Planeten sind, um ihn auszubeuten, sondern um ihn zu bewahren. Meine väterliche Linie ist irisch, und die Ir*innen hatten auch einmal ein anderes Verhältnis zu ihrem Land. Aber aufgrund der industriellen Revolution und anderer Entwicklungen haben die Menschen ihr Land verlassen und die Verbindung dazu verloren. Außer den Indigenen haben alle die eigentliche Aufgabe des Menschen vergessen – sich um diesen Planeten zu kümmern und ihn zu bewahren. Indigene machen nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung aus, aber sie kümmern sich um 80 Prozent des verbliebenen biodiversen Landes. Weil sie eine spirituelle Verbindung zu diesem Land besitzen, würden sie es sogar mit ihrem Leben verteidigen. Ihnen ist klar, dass ihr Leben und unser aller Leben von diesem Land kommt und es ohne dieses Land kein Leben gibt. Das müssen wir wieder begreifen – sonst sind wir verloren.

Außer den Indigenen haben alle die eigentliche Aufgabe des Menschen vergessen – sich um diesen Planeten zu kümmern und ihn zu bewahren. Indigene machen nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung aus, aber sie kümmern sich um 80 Prozent des verbliebenen biodiversen Landes.

Sie identifizieren sich als Maori, aber in manchen Songs scheinen Sie als Irin zu sprechen. Fühlen Sie auch eine Schuld?

Ich habe Maori-Vorfahren, ja, aber ich lebe hier in Australien als weiße Sied­ler*in auf Land, das mir nicht gehört. In diesem Song sage ich einfach nur deutlich, dass ich davon profitiert habe, dass Aborigines ausgebeutet wurden, dass sie umgebracht wurden, dass ihnen ihr Land gestohlen wurde. Wer in einem Kolonialstaat lebt, hat seinen Wohlstand auf dem Rücken Schwarzer und Brauner Menschen erreicht. Das ist die Wahrheit – und das auszusprechen, dazu zu stehen, das ist gut. Ich fühle mich nicht jeden Tag schuldig deswegen, aber ich fühle eine Solidarität.

Ein wichtiges Thema auf dem Album ist das Maori-Wort "Takatāpui", das "Freund des gleichen Geschlechts" heißt und damit eine ähnliche Bedeutung hat wie queer. Waren die Maori vor der Ankunft der weißen Kolonisator*innen eine relativ tolerante Gesellschaft?

Das weiß man nicht, die Maori-Geschichte beruht auf mündlicher Überlieferung. Aber man kann wohl davon ausgehen, dass die Maori nicht dieselben Vorstellungen hatten wie jene, die im viktorianischen England herrschten. Ich bin kein*e Historiker*in, aber es gibt verschiedene Wissenschaftler*innen, von denen die meisten Maori und einige selbst Takatāpui sind, die schreiben, dass queer zu sein unter Maori immer akzeptiert war, weil es nicht zu ihrer Denkstruktur gehörte, die Welt in moralische Kategorien einzuteilen. Es gibt im Maori auch keine Unterscheidung zwischen "ihm" und "ihr", es ist generell keine Sprache, in der viel nach Geschlechtern unterschieden wird.

Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Auf ihrem neuen Album "I Am The River, The River Is Me" verarbeitet Jen Cloher erstmals ihre Maori- Wurzeln. Sie singt teils auf Englisch, teils auf Maori. Ihre 2011 verstorbene Mutter Dorothy Urlich Cloher war Historikerin und Professorin für "Maori Studies" an der Universität von Auckland.

Hier geht es zur Musik: Jen Cloher: "I Am The River, The River Is Me" (Marathon Artists/H’Art), 2023.

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