Amnesty Journal 02. Juni 2021

Ins Netz gegangen

Zeichnung eines Schiffes, das seine Fangnetze auswirft; der Schiffsbauch ist symbolisch gemalt wie ein Gitter, aus dem Hände hervorragen und die Gitterstäbe umschließen.

Gefangen: Oft arbeiten Menschen in der Hochseefischerei unter sklavenartigen Arbeitsbedingungen.

Ausbeuterische Arbeitsbedingungen sind in der Fischereibranche weit verbreitet. Eine US-amerikanische Nichtregierungsorganisation will nun mit Satellitenaufnahmen mehr Verdachtsfälle an Behörden melden.

Von Frank Odenthal

Als Gani sich auf der Brücke meldet, hat er starke Schmerzen in der Brust. Er bittet den Kapitän des Trawlers, der unter südkoreanischer Flagge fährt, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Er leide unter ­Perikarditis, sagt er, auch Herzbeutelentzündung genannt. Doch der Kapitän weigert sich, in den Hafen zurückzukehren; wahrscheinlich weil er die Kosten für den Treibstoff nicht übernehmen will. Er beschuldigt den philippinischen Fischer, die Krankheit nur vorzutäuschen, um sich vor der Arbeit zu drücken. Besatzungsmitglieder berichten später, er habe ihn sogar geschlagen.

Einen Monat später ist Gani tot. Der Kapitän meldet der südkoreanischen Küstenwache als Todesursache einen Herzinfarkt – und fährt weiter. Erst als das Schiff im Hafen von Busan festmacht, können die Behörden eine Autopsie durchführen. Das Ergebnis: eine unbehandelte, fortgeschrittene Perikarditis.

Das Schicksal des philippinischen Fischers ist kein Einzelfall. Die Nichtregierungsorganisation Global Fishing Watch hat von 2012 bis 2018 rund 16.000 Schiffe untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass bei gut einem Viertel der Verdacht auf missbräuchliche Arbeitsbedingungen besteht. Hochgerechnet wären davon bis zu 100.000 Seeleute betroffen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.

Entführt und verkauft

Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO), eine Unterorganisation der Vereinten Nationen, schätzt die Anzahl der Fischereifahrzeuge, die weltweit unterwegs sind, auf 4,6 Millionen. Bei der Mehrzahl handelt es sich um sehr kleine Boote. Rund 64.000 Schiffe von mehr als 24 Metern Länge fischen laut IMO auf den Weltmeeren. Eine Vertrauensperson, an die sich Mannschaftsmitglieder wenden könnten, sucht man auf diesen Schiffen vergeblich. Die erste Anlaufstelle für die Besatzung sind die Behörden in den Häfen.

Doch was, wenn die Schiffe gar keine Häfen anlaufen? Manche bleiben mehrere Jahre auf See, um Treibstoff und Zeit zu sparen und manchmal auch um ihr illegales Treiben auf dem Meer zu verbergen. Sie treffen sich dann fernab der Küsten mit großen Versorgungsschiffen, um ihren Fang zu übergeben und Nahrung für die Crew an Bord zu nehmen. Oder auch um die Crew an das nächste Schiff zu übergeben.

Als die Nachrichtenagentur Associated Press im Jahr 2015 eine Enthüllungsgeschichte über sklavenartige Arbeitsbedingungen an Bord thailändischer Fischtrawler veröffentlichte, war der weltweite Aufschrei groß. Und was die Journalisten berichteten, war in der Tat haarsträubend.

Von burmesischen und kambodschanischen Migrant_innen war die Rede, die gewaltsam an Bord gebracht und bis zu zehn Jahre nicht mehr an Land gelassen wurden. Die 22 Stunden pro Tag arbeiteten und die, wenn sie großen Fischschwärmen folgten, auch mal fünf Tage ohne Pause durchhalten mussten. Die bei jedem Anzeichen von Schwäche getreten oder ausgepeitscht wurden. Die nach ihren Arbeitsschichten in ihre Kabinen eingesperrt wurden, um Fluchtversuche zu verhindern. Oder die auf eine abgelegene indonesische Insel gebracht und dort in glühender Hitze und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen bis zu ihrem nächsten Einsatz in Käfige gesperrt wurden.

Einmal hatte sich ein Fangnetz in der Schiffsschraube verfangen. Da haben sie mich angebunden und über Bord geworfen, um das Netz zu bergen.

Bericht eines Betroffenen

"Einmal hatte sich ein Fangnetz in der Schiffsschraube verfangen", berichtet ein Betroffener. "Da haben sie mich angebunden und über Bord geworfen, um das Netz zu bergen." Bei dem Einsatz sei er in die Schraube geraten und habe bis auf den Daumen alle Finger der rechten Hand verloren.

Rossen Karavatchev ist der für Fischereiwirtschaft zuständige Sektionsleiter der International Transport Workers Federation (ITF), der für Schiffsbesatzungen weltweit zuständigen Gewerkschaft mit Sitz in London. Er erklärt, welche Formen der Missbrauch von Seeleuten in der Fischereibranche haben kann. "Die Schiffe sind überfüllt, die Kabinen überbelegt; den Arbeiter_innen werden die Pässe abgenommen, die Bezahlung ist außerordentlich schlecht, vor allem bei Besatzungsmitgliedern aus asiatischen Billiglohnländern wie den Philippinen, Malaysia und vor allem Indonesien. Die Arbeitszeiten pro Tag können 20 Stunden und mehr betragen."

Außerdem erwarten manche Schiffseigner_innen von ihrer Besatzung eine Kaution, wenn sie an Bord kommt, sagt Karavatchev. Das könne eine Vorauszahlung sein, oder es werde in den ersten Monaten der Lohn einbehalten. Ob die Seeleute das Geld zum Ende der Vertragslaufzeit ausbezahlt bekommen, sei oftmals fraglich und hänge von ihrem Stillschweigen über die ­Arbeitsbedingungen an Bord ab.

Die Undercover-Journalist_innen der Associated Press ­recherchierten zudem, dass Migrant_innen verschleppt und ­anschließend Schiffseigner_innen angeboten wurden. Für Seeleute würden bis zu 1.000 US-Dollar gezahlt.

Knowhow mit Hilfe von Google

Global Fishing Watch hat sich vorgenommen, alle ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der internationalen Fischereiflotte aufzudecken. Die Organisation arbeitet dabei mit Hightech. "Wir werten öffentlich zugängliche Satellitenfotos aus und verknüpfen sie mit den Automatischen Identifikationssignalen der Schiffe", sagt Courtney Farthing, die Projektleiterin bei Global Fishing Watch. Solche Identifikationsgeräte (AIS, Automatic Identification System), die ebenfalls über Satellit übertragen werden, sind seit 2000 von der IMO als Standard in der kommerziellen Seefahrt vorgeschrieben. Sie dienen vor allem der Vermeidung von Kollisionen auf hoher See und als Mittel der Küstenstaaten, um den Verkehr in ihren Hoheitsgewässern zu überwachen.

"Ohne die Daten der AIS-Geräte lassen sich verdächtige Bewegungen auf hoher See nur schwer feststellen", erklärt Farthing, "etwa das Treffen mit anderen Schiffen, um Crewmitglieder auszutauschen oder illegal gefangenen Fisch zu verladen, ohne dafür einen Hafen anlaufen zu müssen." Dass das nötige technische Know-how zur Verfügung steht, dafür sorgen Skytruth, eine Nichtregierungsorganisation, die auf die Auswertung von Satellitenaufnahmen spezialisiert ist, und der Konzern Google. Zusammen mit der Meeresschutzorganisation Oceana haben sie 2016 Global Fishing Watch gegründet.

Farthing und ihre Kolleg_innen machen sich dabei Forschungsergebnisse zunutze, die nahelegen, dass sich Schiffe, auf denen die Crew Zwangsarbeit leisten muss oder missbräuchlich eingesetzt wird, anders verhalten als andere Schiffe. Es geht um Manöver und Merkmale, die solche Schiffe verdächtig erscheinen lassen. Wie lange bleibt ein Schiff auf See? Welche Häfen läuft es an, welche meidet es? Trifft es sich mit anderen Schiffen auf hoher See? Die Stärke der Schiffsmotoren spielt eine Rolle, weil sie Rückschlüsse auf die Größe der Schiffe zulassen; auch der Kurs der Schiffe, vor allem der Abstand zu den Häfen – je größer die Distanz, desto geringer die Gefahr, bei illegalen Aktivitäten überrascht zu werden – und natürlich die Frage, in welchen Hoheitsgewässern sich das Schiff gerade befindet.

Denn dies führt zu einer sehr wichtigen Frage: Wer ist zuständig? "Zunächst einmal ist es der Kapitän des Schiffes", sagt Courtney Farthing. "In dieser besonderen Situation auf See, in der die Besatzung eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit bildet, der sie sich für die Dauer der Fahrt nicht entziehen kann, gilt: Der Kapitän ist für seine Mannschaft verantwortlich."

Davon abgesehen gibt die Position des Schiffes vor, welcher Gesetzbarkeit es unterliegt. Innerhalb der Zwölfmeilenzone ist es die des jeweiligen Küstenstaates; außerhalb, also in internationalen Gewässern, die des Flaggenstaates. Unter welcher Flagge ein Schiff fährt, hat nur wenig mit dem Sitz der Reederei oder der Herkunft der Eigner_innen zu tun. Mitunter haben die Flaggen und deren Schiffsregister nicht einmal etwas mit dem Staat zu tun, den sie vertreten. Oft sind es private Firmen, die dem ­jeweiligen Staat das Recht abgekauft haben, in seinem Namen Schiffe zu registrieren.

Solche Register unterscheiden sich neben der Steuerhöhe vor allem in den Regulierungen und Standards, etwa in Sachen Umweltverträglichkeit oder eben Arbeitsbedingungen. "Billigflaggen" wird dieses Phänomen genannt oder "Flags of Convenience", was man sehr frei mit "Flaggen nach Lust und Laune" übersetzen könnte. Kritiker_innen sehen darin einen Unterbietungswettstreit zulasten der Sicherheit, der Umwelt und der ­Arbeitsschutzrechte.

Doch nicht alle Fischereifahrzeuge fahren unter Billigflagge, wie Rossen Karavatchev erklärt. "Die Fangflotte der Volksrepublik China wird immer wieder bei illegalen Aktivitäten erwischt. Doch die Ernährungssicherheit dieses bevölkerungsreichsten Landes der Erde ist von nationalem Interesse." Deshalb, sagt Karavatchev, wissen sie die politische Führung des Landes hinter sich und fühlen sich sicher, solange sie unter chinesischer Flagge fahren.

Südafrika als Vorbild

Die IMO hat eine Reihe von Regelwerken entwickelt, die jedoch erst in Kraft treten, wenn sie von den einzelnen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, wie IMO-Sprecherin Natasha Brown erklärt. "Grundlage für die Arbeitsbedingungen an Bord ist das im November 2017 in Kraft getretene Übereinkommen der ILO über die Arbeit in der Fischerei. Es legt Mindestanforderungen für die Arbeit an Bord fest, dazu zählen Ruhezeiten, Essen, Mindestalter und Rückführung in die Heimatländer." Weitere Eckpfeiler seien die Vereinbarung über die Ausbildung der Besatzung von Fischereifahrzeugen, das Hafenkontrollabkommen sowie das Kapstadtabkommen (siehe Infokasten unten).

Doch was hilft das schönste Regelwerk, wenn niemand da ist, der in der Lage wäre, es durchzusetzen? Nur die wenigsten Länder können sich eine durchsetzungsstarke Küstenwache leisten. Das gilt umso mehr für Länder des globalen Südens, deren Budget meist niedrig und deren maritime Infrastruktur zu schwach ist, um wirksame Kontrollen in den Häfen durchzuführen.

Wobei es Ausnahmen gibt, wie Courtney Farthing von Global Fishing Watch erklärt. "Südafrika ist ein Beispiel für einen Staat, der sich mit viel Engagement auch auf politischer Ebene für die Wahrung seiner maritimen Ressourcen einsetzt." Das Land gehörte zu den Erstunterzeichnern des ILO-Abkommens, sagt Farthing. "Die Behörden am Kap führen gründliche Inspektionen durch, und sie gehen allen Verdachtsfällen nach, die ihnen von Betroffenen, aber auch von Global Fishing Watch genannt werden."

Die Analysen von Global Fishing Watch liefern keine gerichtsfesten Beweise, fügt Farthing hinzu. Es gehe vielmehr darum, die Wahrscheinlichkeit für illegale Arbeitsbedingungen auf den Schiffen zu berechnen und den zuständigen Behörden aufzuzeigen, worauf sie achten sollten. Sie nennt das einen auf Verdachtsfällen basierenden Ansatz. "Denn die Behörden können unmöglich jedes einzelne Schiff inspizieren."

Die Gewerkschaft ITF und verschiedene Hilfsorganisationen versuchen derweil, in den Häfen Unterstützung anzubieten und auch bei Behördengängen zu helfen. "Viele ausgebeutete oder misshandelte Seeleute trauen sich nicht, sich mit ihren Erlebnissen an die Behörden zu wenden", sagt David Hammond, der Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights At Sea. "Sie fürchten, ihren einbehaltenen Lohn nicht zu bekommen oder ihren Job zu verlieren." Und alternative Einkommensquellen sind in ihren Heimatländern meist rar. "Wir müssen da sehr behutsam vorgehen", sagt Hammond.

Frank Odenthal ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Regelwerke zum Schutz der Besatzung in der Fischereibranche



ILO – Internationale Arbeitsorganisation der UNO: Übereinkommen über Arbeit in der Fischerei ("Work in Fishing Convention"); Mindestanforderungen für Arbeitsbedingungen an Bord; 2007 beschlossen, 2017 in Kraft getreten.

IMO – Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UNO: STCW-F-Übereinkommen ("International Convention on Standards of Training, Certification and Watchkeeping for Seafarers in Fishing"); regelt die Anforderungen an Aus­bildung und Befähigung von Seeleuten sowie den Wachdienst in der Fischereibranche; 1995 beschlossen, 2012 in Kraft getreten.

FAO – Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO: PSMA ("Port State Measures Agreement"); ­regelt Maßnahmen der Hafenbehörden zur Verhütung, Verhinderung und Aufdeckung illegaler, nicht gemeldeter und unregulierter Fischerei; 2009 beschlossen, 2016 in Kraft getreten.

IMO – Internationale Seeschifffahrtsorganisation der UNO: Kapstadtabkommen ("Cape Town Agreement"); enthält Anforderungen für die Konstruktion, den Bau und die Ausrüstung von Fischereifahrzeugen sowie Vorschriften zum Schutz und zur Sicherheit von Besatzungen; 2012 beschlossen, noch nicht in Kraft getreten.

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