Amnesty Deutschland 28. Mai 2011

Grüße vom Onkel aus London

Das Bild zeigt einen Mann mit Pfeife, der in die Kamera schaut

Fluchthelfer und ehemaliger politischer Gefangener: Wolfgang Welsch

Staatsfeind und Fluchthelfer: Wolfgang Welsch überlebte Stasi-Haft, Folter und drei Mordanschläge. Mit Hilfe von Amnesty und Willy Brandt kam er aus der DDR frei.

"Rettet mein Leben!" – Das ist die verzweifelte Botschaft eines Kassibers, der Carola Stern, Leiterin der westdeutschen Sektion von Amnesty International, 1970 zugespielt wird. Verfasst hat ihn ein Stasi-Gefangener, der im Zuchthaus Bautzen inhaftiert ist. Wolfgang Welsch fürchtet um sein Leben. Er ist krank, ausgezehrt und geschwächt durch dauerhafte Mangelernährung, schwere Misshandlungen und ein Jahr Dunkelhaft. Mit Hilfe seines Freundes Dieter Voigt gelingt es ihm, den Kassiber nach draußen zu schaffen, der von den menschenverachtenden Haftbedingungen zeugt. Stern erkennt die lebensbedrohliche Situation von Wolfgang Welsch und informiert sofort die britische Sektion von Amnesty International. Die Gruppe in Leeds startet eine Kampagne, die die Freilassung des politischen Gefangenen zum Ziel hat.

Die deutsch-deutsche Lebensgeschichte von Wolfgang Welsch böte Stoff für einen atemberaubenden Agententhriller. 1944 in Berlin geboren, absolviert der Sohn aus bürgerlich-christlichem Haus nach dem Abitur eine Schauspielschule in Ostberlin und schreibt systemkritische Gedichte. 1964 wird er bei einem Fluchtversuch vom Ministerium für Staatssicherheit festgenommen und wegen Republikflucht zu zwei Jahren Haft verurteilt, die er im Stasi-Gefängnis Berlin-Pankow, im Gefängnis Bautzen und im Zuchthaus Brandenburg verbüßt. Während der Haft ist er systematischen Misshandlungen durch Wärter und Mithäftlinge ausgesetzt.

Staatsfeind und Fluchthelfer: Interview mit Wolfgang Welsch

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Der Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel erreicht 1966 die vorzeitige Entlassung von Wolfgang Welsch. Als ihm die Ausreise in die Bundesrepublik angeboten wird, lehnt er ab. Er will bleiben und seine Erfahrungen in einem Film verarbeiten, der sich gegen das SED-Regime richtet. Als er gerade mit den Dreharbeiten begonnen hat, wird er verraten und erneut verhaftet. Es soll nicht das letzte Unrecht im Leben des Wolfgang Welsch sein.

Wegen Flucht, Hochverrat, staatsgefährdender Hetze und Propaganda sowie Verbindungsaufnahme zu einer "verbrecherischen Organisation" – gemeint ist die UNO – wird er zu weiteren fünf Jahren Haft verurteilt. Mit Schlägen, Isolationshaft in einer dunklen, schalldichten Zelle und anderen Foltermethoden versucht die Stasi, den Gefangenen geständig zu machen, ihn zu brechen. Er wird acht Tage lang in Unterwäsche in eine fensterlose Eiszelle gesperrt. Tag und Nacht brennt das Licht; wenn er einschläft, droht der Erfrierungstod. Man unterzieht ihn sogar einer Scheinhinrichtung. Eine spätere Vernehmung verweigert er:

"Es ist mir egal, ihr könnt mich ruhig noch ein zweites Mal erschießen."

"Ich bin nicht der große Held und habe mich auch nie als solcher empfunden", sagt Wolfgang Welsch heute. Und doch schwört er in den Kellern der Geheimpolizei, "meine Stimme zu erheben, solange ich lebe". So bleibt er renitent, ein Unbeugsamer.

Der Häftling ist nach den Jahren der Haft in sehr schlechter Verfassung, als er 1970 im Zuchthaus Bautzen Besuch von seiner Mutter bekommt. Sie bestellt "Grüße vom Onkel aus London". Eine Nachricht, die ihm Hoffnung macht. Wolfgang Welsch hat keinen Onkel in London. Doch London liegt im Westen. Er ahnt, dass etwas im Gange sein muss: "Das war ein Anlass zu großer Freude. Wer auch immer in London war, oder was auch immer mit London gemeint war: Mir wird geholfen."

Was es wirklich mit London auf sich hat, erfährt er erst später. Die Amnesty-Gruppe in Leeds setzt sich sehr für Welsch ein. Sie macht über die britische Presse auf den Fall aufmerksam, zitiert aus dem Kassiber und fordert in vielen Briefen an den DDR-Staatsrat und andere Behörden beharrlich die sofortige Freilassung des politischen Gefangenen. Im Sommer 1970 erklärt Amnesty Wolfgang Welsch zum "Politischen Gefangenen des Jahres". Die zahlreichen Aktivitäten führen schon bald zu spürbaren Hafterleichterungen. Anfang März 1971 wird Welsch schließlich freigekauft und in den Westen entlassen.

Dazu beigetragen hat sicherlich die Tatsache, dass sein Name auf einer Liste stand, die der damalige Bundeskanzler Willy Brandt bei seinem historischen Treffen mit dem stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph 1970 in Erfurt übergab. "Amnesty International habe ich im Grunde mein neues Leben zu verdanken", sagt Welsch rückblickend. "Wer weiß, wie es sonst ausgegangen wäre: Ich war sehr krank, es ging mir sehr schlecht. Ich bin glücklich darüber, dass es Amnesty gibt, und dass die Organisation sich so für mich eingesetzt hat." Warum aber war ausgerechnet die Arbeit einer Organisation wie Amnesty International in seinem Fall so effektiv? Welsch erklärt das so:

"Zum einen war Amnesty schon vor meinem Fall in vielen Fällen erfolgreich. Und das waren nicht nur politische Gegner des kommunistischen Regimes. Sondern Amnesty hat sich unabhängig von der politischen Orientierung für Menschen eingesetzt, die verfolgt, misshandelt und gefoltert wurden. Das hat denen vielleicht uneingestanden Respekt abgenötigt."

An der innerdeutschen Grenze Herleshausen endet die Geschichte des Stasi-Häftlings Wolfgang Welsch, es beginnt die des Staatsfeindes und Fluchthelfers. Welsch studiert in Gießen Soziologie und promoviert mit einer Dissertation über das Ministerium für Staatssicherheit. Gleichzeitig baut er eine Organisation auf, die bis 1987 220 Menschen die Flucht aus der DDR ermöglicht. 1973 verfasst er ein Memorandum gegen die Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen. Es gelangt in die Vollversammlung der UNO in New York und dort auch auf den Tisch der DDR-Vertretung. Dafür habe ihn die Stasi gehasst, so Welsch. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, ordnet die Liquidierung des Staatsfeindes an: Die Operation "Skorpion" beginnt. Welsch überlebt drei Mordanschläge, an deren Durchführung ein vermeintlich enger Freund beteiligt ist. Zuerst wird eine Bombe an seinem Auto angebracht, die allerdings nicht zündet. Später setzt man einen Scharfschützen auf ihn an. Der Anschlag schlägt fehlt, weil er sich zufällig im Moment des Schusses nach unten beugt, um eine heruntergefallene Pfeife aufzuheben.

Schließlich soll Welsch 1981 während einer Urlaubsreise vergiftet werden. Er überlebt nur knapp und leidet monatelang unter extremen Schmerzen. Zudem verrät ihn seine damalige Ehefrau an die Stasi. Ein vierter Anschlag wird nur durch das Ende der DDR vereitelt.

Woher nimmt er die Kraft, nicht aufzugeben?

"Der Wert der Freiheit. Die Freiheit ist das kostbarste Gut. Menschlichkeit, Christlichkeit und Menschenrechte. Das ist die Antwort."

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