Aktuell Libyen 03. Februar 2012

Libyen: Tod von Gefangenen wegen weitverbreiteter Folter

26. Januar 2012 - In Libyen starben in den letzten Wochen und Monaten mehrere Gefangene, nachdem sie Folter und Misshandlungen ausgesetzt waren. Die Gefangenen wurden verdächtigt, al-Gaddafi treue Kämpfer oder Unterstützer zu sein. Mitarbeiter von Amnesty International haben Gefangene getroffen, die in und in der Nähe von Tripolis, Misrata und Gheryan inhaftiert waren. Die Gefangenen wiesen sichtbare Folterspuren auf, die ihnen in den letzten Tagen und Wochen zugefügt worden waren. Ihre Verletzungen zeigten unter anderem offene Wunden am Kopf, an den Gliedmaßen, am Rücken und an anderen Körperteilen. Die Folter wird von offiziell anerkannten Militär- und Sicherheitseinheiten so wie von einer Vielzahl bewaffneter Milizen durchgeführt, die außerhalb jedes rechtlichen Rahmens agieren.

"Trotz aller Versprechen, die Gefängnisse unter Kontrolle zu bringen, ist es erschreckend herauszufinden, dass kein Fortschritt zur Beendigung der Folter gemacht wurde", sagte Donatella Rovera, leitende Amnesty Expertin, zuständig für Krisensituationen.

"Wir wissen von keiner sachgerechten Untersuchung der Folterfälle und weder die Überlebenden noch Angehörige derjenigen, die in Haft gestorben sind, hatten irgendwelche Möglichkeiten, Gerechtigkeit oder Wiedergutmachung für das, was ihnen wiederfahren ist, zu bekommen."

"Während viele Gefangene uns ihre Erfahrungen der Folter schilderten, trauten sich andere nicht darüber zu sprechen – aus Angst vor schlimmerer Folter. Sie zeigten uns nur ihre Wunden".

Gefangene, sowohl Libyer als auch Staatsangehörige aus Subsahara-Afrika, berichteten Amnesty International, dass sie in schmerzhaft verdrehten Positionen aufgehängt und stundenlang mit Peitschen, Kabeln, Plastikschläuchen, Metallketten und Stangen sowie Holzstöcken geschlagen wurden und mit Stromdrähten und Elektroschockwaffen gequält wurden.
Die Muster der Verletzungen, die die Organisation beobachten konnte, stimmten mit Aussagen der Gefangenen überein. Auch medizinische Berichte, in die Amnesty International einsehen konnte, bestätigten die Anwendung von Folter an mehreren Gefangenen, einige von ihnen starben in Haft.

Die Mehrzahl der betroffenen Gefangenen sind Libyer, die verdächtigt werden, dass sie während des Konfliktes al-Gaddafi gegenüber loyal geblieben sind. Ausländische Staatsangehörige, überwiegend aus subsaharischen Ländern, werden auch weiterhin wahllos festgenommen, teilweise in Zusammenhang mit ihrem ungeregelten rechtlichen Status. Einige werden gefoltert.

Zeugenaussagen

Die Untersuchungen von Amnesty-Mitarbeitern ergaben, dass Gefangene normalerweise sofort nach ihrer Festnahme durch lokale bewaffnete Milizen gefoltert wurden und anschließend während der Verhöre. Dies unter anderem auch in offiziell anerkannten Gefängnissen. Bis heute haben die Gefangenen keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Einige berichteten Amnesty International, dass sie Verbrechen, welche sie nicht begangen hatten, zugaben, nur damit sie nicht mehr gefoltert werden.

In Misrata werden Gefangene weiterhin in einem Verhörzentrum, das vom Geheimdienst der Nationalen Armee (`Amn al-Jaysh al-Watani) geführt wird, gefoltert, ebenso wie in den Hauptquartieren der bewaffneten Milizen.
Am 23. Januar 2012 sprachen Amnesty-Mitarbeiter mit Gefangenen in Misrata, die erst einige Stunden zuvor gefoltert worden waren. Ein Mann, immer noch in Haft, sagte der Organisation: "Heute Morgen nahmen sie mich zu Verhören mit nach oben. Fünf Männer, in Zivilkleidung, schlugen und peitschten mich abwechselnd...Sie hingen mich für über eine Stunde über der Tür an meinen Handgelenken auf und schlugen weiter auf mich ein. Sie traten mich auch."

Ein anderer Gefangener erzählte Amnesty International, dass er auf die Wunden eingeschlagen wurde, die ihm im Monat zuvor durch Milizen zugefügt worden waren. Er berichtete: "Gestern schlugen sie mich mit elektrischen Kabeln während meine Hände an meinem Rücken in Handschellen lagen und meine Füße zusammen gebunden waren. Sie drohten mir damit, mich an die Milizen, die mich gefangen genommen hatten, zurück zu geben und dass diese mich umbringen würden."

Todesfälle in Haft

Mehrere Gefangene starben in Gewahrsam bewaffneter Milizen in und um Tripolis und Misrata unter Umständen, die auf Folter schließen lassen.
Angehörige eines ehemaligen Polizeioffiziers und Vaters von zwei Kindern aus Tajura, östlich von Tripolis gelegen, sagten Amnesty International, dass er von lokalen bewaffneten Milizen im Oktober 2011 festgenommen wurde. Die Familie hatte keine Möglichkeiten, Informationen über sein Schicksal zu erhalten. Erst nach drei Wochen wurde ihm erlaubt, seine Frau anzurufen. Einige Tage später wurde seine Familie von einem Krankenhaus in Tripolis darüber informiert, dass seine Leiche eingeliefert worden sei.

Amnesty International sah Aufnahmen des Leichnams, die umfangreiche, schwere Prellungen und Blutergüsse auf dem ganzen Körper und den Gliedmaßen zeigten. Außerdem waren offene Wunden an den Fußsohlen sichtbar, die wahrscheinlich durch die Methode des sogenannten "falaqa", bei der immer wieder auf die Fußsohlen geschlagen wird, verursacht wurden. Dies ist eine übliche Foltermethode in Libyen.
Ezzeddine al-Ghool, ein 43-jähriger Oberst der Armee und Vater von sieben Kindern ist der aktuellste Todesfall in Untersuchungshaft als Folge von Folter, der Amnesty International bekannt ist. Er wurde am 14. Januar von einer bewaffneten Milizengruppe in Gheryan, 100 km südlich von Tripolis, festgenommen.

Sein Leichnam, mit Prellungen und Wunden übersät, wurde seiner Familie am darauffolgenden Tag übergeben. Ärzte bestätigten, dass er in Folge der im zugefügten Verletzungen starb. Bei einigen anderen Männern, die zur gleichen Zeit wie er festgenommen worden waren, wurde auch von Folter gesprochen. Acht von ihnen erlitten schwere Verletzungen, die eine Behandlung im Krankenhaus erforderten.

Fehlende Untersuchungsergebnisse

Trotz wiederholter Anfragen von Amnesty International seit Mai 2011 hat die libysche Übergangsregierung – weder auf nationaler noch auf lokaler Ebene – effektive Untersuchungen über Fälle von Folter und Verdacht auf Tod in Untersuchungshaft durchgeführt.

Polizei und Justiz funktionieren in Libyen nicht. In manchen Teilen des Landes verhandeln Gerichte zwar zivile Fälle, aber sogenannte "sensible" Fälle, die sich auf politische oder Sicherheitsbelange beziehen, kommen nicht vor Gericht.
Stattdessen haben eine Reihe von meist unoffiziellen Einrichtungen, die keinen Rechtsstatus besitzen, darunter auch die sogenannten "juristischen Komitees", Untersuchungen in mehreren Haftzentren durchgeführt, außerhalb der Kontrolle der Justiz.

"Bislang versagten diejenigen, die an der Macht sind komplett dabei, konkrete Schritte zu unternehmen, um Folter und andere Misshandlungen der Gefangenen zu beenden und die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen", sagte Donatella Rovera.

"Wir unterschätzen die Herausforderungen, denen die libysche Übergangsregierung beim Aufbau einer Kontrolle über die große Zahl bewaffneter Milizen im ganzen Land gegenüber steht, nicht. Aber wir müssen erkennen können, dass sie entscheidende Maßnahmen gegen Folter ergreifen. Im Interesse eines neuen Libyens, das Menschenrechte respektiert, kann diese Problematik nicht außer Acht gelassen werden."

Amnesty International fordert die libysche Regierung dringend dazu auf

  • Die Schließung aller nicht offiziellen Haftzentren anzuordnen und eine Regelung zu schaffen, die alle Gefängnisse unter die Kontrolle der Behörden stellt und eine effektive Aufsicht über Haftprozeduren und Praktiken sicherstellt

  • Sicherzustellen, dass zügig Untersuchungen in allen bekannten und dokumentierten Fällen von Folter und anderen Misshandlungen durchgeführt werden

  • Sicherzustellen, verdächtige Personen von jeglichen Funktionen, die mit Festnahmen in Verbindung stehen, zu entbinden, bis die Untersuchungen abgeschlossen sind

  • Bei einer ausreichenden und zulässigen Beweislage die Verdächtigen in fairen Verfahren und ohne Anwendung der Todesstrafe vor Gericht zu stellen

  • Sicherzustellen, dass alle Gefangenen Rechtsbeistand bekommen

  • Sicherzustellen, dass alle Gefangenen regelmäßig medizinisch untersucht werden und dass medizinische Gutachten, die auf mögliche Verletzungen durch Folter hinweisen, den Gefangenen und den Justizbehörden zugänglich gemacht werden

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